Polenjahrbuch 2009

Religion in Polen

 

Es ist allgemein bekannt: Polen ist ein katholisches Land. Das sagt jeder, das weiß man eben. - Irrtum: Neben römischen gibt es dort griechische und armenische Katholiken, neben Katholiken auch Protestanten und Orthodoxe, neben Christen auch Juden und Moslems, neben Gläubigen natürlich Atheisten. Das alles erfährt man im Detail aus dem „Jahrbuch Polen“, herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut, nun schon in 20. Folge, die dem Thema „Religion“ gewidmet ist.

Zweites Stereotyp: Polnische Vereinigte Arbeiterpartei und sozialistischer Staat haben viereinhalb Jahrzehnte lang den Katholizismus unablässig verfolgt (solche Formulierungen finden sich auch in einzelnen Beiträgen des Jahrbuchs), während die Kirche wie ein Mann den „kommunistischen Machthabern“ ihren Widerstand entgegengesetzt hat. - Abermals Einspruch, Euer Ehren: Es gab Zeiten eines relativ auskömmlichen Nebeneinander, und es gab Bereiche, in denen die beiderseitigen Interessen - auch wenn die Motive sich unterschieden - vergleichsweise übereinstimmten.

Peter Oliver Loew, wissenschaftlicher Mitarbeiter des genannten Instituts, schildert eine solche Phase in seinem Beitrag über die „Rekatholisierung der polnischen Westgebiete nach 1945“ (aus damaliger deutsch-protestantischer Sicht „eine Gegenreformation größten Stiles“, wie es 1947 in einer evangelisch-kirchlichen Denkschrift hieß): die katholische Kirche gab der neu angesiedelten katholischen Bevölkerung „Halt und Identität“, wie Loew schreibt - und der Staat begrüßte das. Die Bischöfe ihrerseits versicherten 1951: „Der Standpunkt des Episkopats zu den Westgebieten ist klar... Er deckt sich vollständig mit dem Standpunkt des Staates.“ (S. 139)

Namentlich seit den 70er Jahren suchte die PVAP angesichts wachsender innenpolitischer Probleme nach moralischen Gemeinsamkeiten mit der katholischen Kirche und nach Möglichkeiten partieller Kooperation. Die Kirche war klug genug, sich dem nicht total zu verweigern. Dieter Bingen, Direktor des Instituts, drückt das in seinem einleitenden Artikel „Die katholische Kirche Polens zwischen Diktatur und Demokratie“ so aus: „Es steht außer Zweifel und wird doch oft übersehen, dass die Kirche in Polen bemüht war, allem aus dem Wege zu gehen, was sie in den Ruf einer politischen Opposition“ hätte bringen können (S. 9).

Anders hätte die Kirche auch nicht die Rolle übernehmen können, die sie spielte, als der bekannte „historische Kompromiss“ von 1980 zustande kam. „Eine Art Notkoalition war geboren“, urteilt Bingen, „in der die Kirche sich zu keinem Zeitpunkt der Opposition in Gänze verschrieb, sondern mit ihr sympathisierend zugleich im wörtlichen Sinne transzendent eine Schirmfunktion übernahm, die Platz  für ‚das Ganze' bot, das besagte: das Wohl der Nation achtend, Rücksichten auf die machtpolitischen Realitäten zu nehmen und von der regierenden Partei nicht zu verlangen, was sie aus realpolitischen Gründen nicht geben konnte: politischen Pluralismus und Demokratie ohne Attribut. Die katholische Kirche ging also nicht im Politischen und in der politischen Opposition auf.“ (S. 10)

Seit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre existieren bekanntlich neue Bedingungen. Beherrscht nun die katholische Kirche die polnische Bildfläche? - Das wäre wieder eine „schreckliche Vereinfachung“, sozusagen Stereotyp Nr. 3. Gewiss, sie dominiert nicht nur auf religiösem Gebiet - zu weit über 90 Prozent bekennt sich die polnische Bevölkerung zum Katholizismus -, sondern auch im profanen Bereich, zumal das nationale Selbstverständnis der Polen vorwiegend katholisch geprägt ist. Aber die Kirche selber ringt auf neue Weise um ihren Platz im gesellschaftlichen Leben, anders gesagt: um ein rechtes Verständnis ihrer öffentlichen Rolle.

Sie selber ist in dieser Hinsicht kein Monolith. Sie so zu sehen, wäre ein vierter Irrtum. Traditionalisten und Reformer liegen im Widerstreit. Mehrere Beiträge des Bandes belegen überzeugend, wie konservative und dialogbereite Kräfte einander entgegenstehen. Hinzu kommt, dass die für Europa kennzeichnende Säkularisierung auch um Polen - besonders seit seinem EU-Beitritt - keinen Bogen macht. Fundamentalistische Ultras halten Polen für berufen, Europa zu rechristianisieren, während sich liberale Kreise auch im katholischen Lager dem Prinzip der Pluralität geöffnet haben.

Einige Artikel im Jahrbuch bezeugen, wie unterschiedlich polnische Katholiken die Welt, die Kirche und sich selber betrachten. Gewiss, die katholische Kirche besitzt nach wie vor hohe Autorität beim Volk, „aber nicht als Kraft, die sich politisch engagiert, sondern als moralische Vermittlerin, Wächterin und Lehrerin des christlichen Wertesystems...“ (S. 41). Längst nicht immer stimmen Frömmigkeit und Alltagsverhalten von Katholiken überein. Aber das ist wohl typisch für die moderne Welt überhaupt.

Wie reagiert in Polen die Politik auf diese Gegebenheiten? Einerseits schreckt sie vor allem zurück, was sie in den Verdacht bringen könnte, sich gegen die katholische Kirche zu stellen. „Die Angst, sich dem Vorwurf auszusetzen, eine ‚anti-kirchliche' oder ‚anti-katholische' Politik zu betreiben, lässt polnische Politiker vergessen, dass Polen seiner Verfassung nach eine säkulare Demokratie ist, die prinzipiell der Herrschaft des Rechts unterworfen ist und nicht einem religiös-ethischen System“, heißt es in der Studie von Adam Szostkiewicz (S. 41).

Andererseits fehlt es nicht an Versuchen, die Kirche in den Dienst vordergründiger politischer Zwecke zu stellen. So äußert Bingen: „Bisweilen war es in den zurückliegenden zwanzig Jahren schwierig herauszufinden, wer hier wen zu instrumentalisieren suchte - die Kirche die Politik oder vielleicht doch eher die Politik die Kirche - womöglich zeitweise stärker, als es die regierende kommunistische Arbeiterpartei jemals in der Zeit der Volksrepublik getan hatte?“ (S. 8).

Daneben bietet der Band anregende Artikel etwa über religiöse Einstellungen in der jungen Generation, über Kirche und Frauen im heutigen Polen, über Religion in der dortigen zeitgenössischen Kunst - und nicht zu vergessen: über den nichtkatholischen Bereich. Mannigfaltige literarische Beiträge runden das Jahrbuch ab.

Gehard Fischer

 

Deutsches Polen-Institut (Hrsg.): Jahrbuch Polen 2009. Band 20/Religion. Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2009. 224 S., 11,80 Euro. ISSN 1432-5810, ISBN 978-3-447-05930-5

 

Auszüge:

„Die Polen sind mit der katholischen Religion nicht nur geistig und ethisch, sondern auch kulturell verbunden. Am wenigsten jedoch politisch. Das, was Politiker, Journalisten und Funktionäre aufregt, muss die katholischen Massen nicht interessieren. Die Kirche rangiert zwar in den Umfragen weit oben, aber nicht als Kraft, die sich politisch engagiert, sondern als moralische Vermittlerin, Wächterin und Lehrerin des christlichen Wertesystems sowie als Fürsprecherin und Betreuerin der Schwachen und Bedürftigen.“ (Adam Szostkiewicz)

„Es ist nicht der Anteil der Jugendlichen, die sich zum Glauben bekennen, welcher den Seelsorgern schlaflose Nächte bereitet, sondern die große Diskrepanz zwischen jenen Bekenntnissen und den täglichen Lebensentscheidungen.“ (Grzegorz Pac)

(Aus dem Jahrbuch)