Abgründe und Untiefen
Von Friedrich Leidinger
Wer die Sonderausstellung „Deutsche und Polen - 1.9.39 - Abgründe und
Hoffnungen“ im Berliner Deutschen Historischen Museum (DHM) besuchen will, muss
- um in den Ausstellungstrakt von I.M.Pei zu gelangen
- nach der Eingangshalle zunächst den Hof des ehemaligen Zeughauses
durchqueren. Der Betrachter wird den von einer Glaskuppel überwölbten Hof des
frühbarocken Baumeisters Andreas Schlüter in der Ausstellung wieder entdecken -
hier wurden nach dem Septemberfeldzug 1939 von der polnischen Armee erbeutete
Waffen zum Zeichen des Sieges der deutschen Wehrmacht ausgestellt. Es ist -
leider - einer der wenigen Momente, in denen diese Ausstellung dem Anspruch
gerecht wird, der notwendigerweise an sie zu richten ist, nämlich, etwas
Bedeutsames zu diesem Gedenkjahr 1939 zu sagen. Denn diese Ausstellung, die an
außerordentlicher Stelle und in einer Zeit außerordentlicher Spannungen als
Folge der nur mühsam verhüllten Gegensätze zwischen Polen und Deutschland mit
großem Aufwand entstand, ist nach Form und Inhalt schwach und in mancher
Hinsicht geradezu ärgerlich.
Dabei war die Aufgabe dieser
Ausstellung zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen für das Team
des DHM und die aus beiden Ländern hinzugezogenen historischen Berater von Rang
zweifellos eine reizvolle Herausforderung. Es wäre eine spannende Frage
gewesen, den Ursprüngen jener Exzesse von Gewalt und Terror nachzuspüren, die
historischen Pfade nachzuzeichnen, die von der „Polenfreundschaft“ des Vormärz
bis zu jenen Ereignissen führen, die wir mit Begriffen wie „Holocaust“ und
„Völkermord“ nur unvollkommen zu fassen versuchen. Und es ist mit Sicherheit
kein Mangel an Objekten, die einen analytischen Versuch über das schicksalhafte
deutsch-polnische Verhältnis konkret belegen und verdeutlichen könnten.
So liefert der erste Teil des auf
zwei Ebenen angelegten Ausstellungsparcours eine große Zahl von Zeugnissen über
das Auseinanderdriften der Polen und der Deutschen in der Zeit der
Herausbildung des Nationalstaates, der für Deutschland mit dem Scheitern der
demokratischen Revolution und dem Entstehen eines antidemokratischen
Militärregimes und einem Operettenkaiser an seiner Spitze seine Erfüllung fand.
Der Architekt dieses Staates, Bismarck, war sich bewusst, dass für eine
dauerhafte Sicherung des „Reiches“ eine völlige Vernichtung Polens die Voraussetzung
wäre. Für Erich Ludendorff, Stratege des deutschen Generalstabs im Ersten
Weltkrieg, war die Verlegung der Reichsgrenzen um mehr als 200 km nach Osten
und die Deportation der gesamten polnischen Bevölkerung wichtigstes Kriegsziel.
Ludendorffs Plan findet unverdient in dieser Ausstellung keine Erwähnung,
unverdient, weil dieser Plan nur 20 Jahre nach seiner Niederlage im September
39 mit der Zerschlagung Polens seine erfolgreiche Wiederauferstehung feierte.
Stattdessen nehmen die nationalistischen Propagandafeldzüge der
Zwischenkriegszeit großen Raum ein, einen größeren als z.B. die Beschreibung
des Versailler Abkommens und die beharrlichen Aktivitäten der fast alle
Parteien umfassenden großen Koalition der Revisionisten im Berliner Reichstag,
die sich mit dem wieder entstandenen Polen und seinen Grenzen nicht abfinden
wollten.
Fast zufällig aus einem
Bildarchiv ausgewählt wirken die Exponate zum zentralen Teil der Ausstellung,
dem Krieg und der Okkupation von 1939 bis 1945. Die meisten dieser Bilder - auch
die eindrucksvollen Fotos aus dem Warschauer Ghetto - dürften die Besucher
schon einmal gesehen haben. Aber welche Ziele verfolgte das
nationalsozialistische Deutschland mit seiner Polenpolitik? Hier bleibt die
Ausstellung wichtige Antworten schuldig. Dass der biologische Rassismus, der
sich in der Vorkriegszeit vor allem gegen Juden und „Zigeuner“ sowie gegen
„Erbkranke“ richtete, innerhalb weniger Wochen auf die Slawen allgemein und die
Polen insbesondere ausgedehnt werden konnte, dass zwischen beiden - Polen und
Juden - nur noch ein quantitativer, aber bezüglich ihres „Untermenschentums“
kein qualitativer Unterschied mehr gemacht wurde, das verschweigt die
Ausstellung zwar nicht, aber erschließt es nur fragmentarisch mit dem Hinweis
auf den „Rassenwahn“, der sich „auch gegen die slawische Bevölkerung“ richtete,
und eher kursorischen Hinweisen zu Heinrich Himmlers „Generalplan Ost“ oder zur
„Polendenkschrift“ Theodor Schieders. Doch hier ging
es um die systematische Vernichtung eines Volkes als ethnokulturelle
Gruppe durch Ermordung seiner Intelligenz, durch Deportation und Zwangsarbeit,
durch anthropologische Selektion und Vernichtung der nicht brauchbaren, durch
systematische Versuche, mit Ziel, die biologische Fortpflanzung des ganzen
Volkes zu kontrollieren und zu begrenzen. In Zamość
, während der Okkupation umbenannt in „Himmlerstadt“, lautete die Aufgabe des
„SS-Sonderlaboratoriums“ nicht allein die polnische Bevölkerung zu vertreiben,
um Platz für volksdeutsche Umsiedler aus Bessarabien zu schaffen, sondern auch,
die für eine Arisierung geeigneten Kinder unter zwei Jahren zu identifizieren
und über die Aktion „Lebensborn“ an ideologisch zuverlässige deutsche Familien
zu adoptieren. Mehrere tausend Kleinkinder sind auf diese Weise eingedeutscht
worden, die meisten wissen bis heute nichts davon.
Das Kriegsende mit den für die
aktuellen Kontroversen so wichtigen Themen „Flucht“, „Umsiedlung“ und
„Vertreibung“ wird eher gestreift, denn wirklich behandelt. Dabei gäbe es
ausreichende Gründe, dem Thema andere Aspekte abzugewinnen, als die vor
eineinhalb Jahren gezeigte Ausstellung „Erzwungene Wege“, zumal die Experten
auf beiden Seiten einen großen Konsens über das Verständnis dieser bis in die
Gegenwart wirkenden Vorgänge hergestellt haben. Die nun folgende
Nachkriegsepisode scheint in der Sichtweise der Ausstellung im wesentlichen von
Aufmärschen der Landsmannschaften in der BRD, von Willy Brandts Ostpolitik, von
„verordneter Freundschaft“ in der DDR und von „Päckchen für die Solidarność“
und dem polnischen „Ja zur Wiedervereinigung“ gestaltet zu sein. Man mag noch
so viel Verständnis für die Notwendigkeit zu reduzieren aufbringen, die
Einseitigkeit der Darstellung bleibt ein Ärgernis. Sie ignoriert die große
politische Leistung der DDR-Regierung mit der Anerkennung der polnischen
Westgrenze an Oder und Neiße im Juli 1950 genauso wie die Komplexität der
gesellschaftlichen Kontakte zwischen beiden benachbarten Ländern. Das in der
Ausstellung gezeigte Plakat für Frieden und Völkerfreundschaft mag den heutigen
Betrachter in seiner Sprache und Stilistik befremden, es formuliert jedoch den
starken Wunsch vieler Menschen in dieser Zeit - auch in der Bundesrepublik.
Kaum verständlich bleibt der
Hinweis auf die Affäre um den Film „Der Aufenthalt“ nach Hermann Kants Roman
auf der Berlinale 1983. Das klägliche Versagen der polnischen Kulturfunktionäre
vor einem Film, der die zentralen Fragen von Schuld und Verantwortung
thematisierte, wurde nicht weiter erklärt. Es fehlte auch jeder Hinweis auf den
historischen Ursprung dieses Themas, die Bemühungen polnischer und deutscher
Antifaschisten um junge deutsche Soldaten in den Ruinen des befreiten Warschau,
denen sie eine demokratische, am klassischen bürgerlichen Wertekanon
orientierte Erziehung zum Frieden zuteil werden ließen.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es auch in der BRD einen (außerparlamentarischen) Widerstand gegen den Mief der Restauration und des Revisionismus der staatstragenden Parteien Union, SPD und FDP gab, der sich zwar bis Ende der 1960 er Jahre nicht durchsetzen konnte, ohne den aber die politische Klasse der BRD den von den westlichen Verbündeten dringend geforderten Politikwandel gegenüber den sozialistischen Ländern noch später vollzogen hätte. So endet die Ausstellung letztlich mit der Verneinung ihrer eigenen, allerdings kaum ausgeführten Anfänge, indem sie das Fortdauern des deutsch-polnischen Gegensatzes nach Kriegsende nicht etwa mit seinen nicht beseitigten Ursachen, dem fortwährenden Festhalten am „Reich“, sondern mit dem Kalten Krieg und der kommunistischen Politik in Osteuropa zu erklären versucht. Etwas ratlos stehen wir schließlich vor Miroslaw Kloses Fußballschuhen: Welche Hoffnung soll mit dieser ihrer historischen Zusammenhänge weitgehend entkleideten Ausstellung eigentlich ausgedrückt werden? Am 6. September wird die Ausstellung geschlossen.