Dokumentation
Aus der Erklärung Jaruzelskis am
2. Oktober 2008 vor Gericht
„(...) An diesem speziellen Ort
und zu dieser besonderen Zeit wiederhole ich diese Worte mit voller
Überzeugung. (…) Insbesondere beziehen sie sich auf die Schlüsselfrage, die
Ausrufung des Kriegszustandes. Ich erkläre unverändert, dass diese dramatisch
schwierige Entscheidung von einer höheren Notwendigkeit diktiert war, indem sie
Polen vor einer unendlich großen Katastrophe bewahrte. Ich ergänze diese
Einschätzung mit der bereits oft wiederholten Feststellung: Das Kriegsrecht war
von Übel, aber von geringerem Übel gegenüber dem, was real und unvermeidlich
drohte.
Noch einmal erkläre ich
ebenfalls: Die Solidarność hatte in der Rückschau das historische
Recht auf ihrer Seite, denn ihr Ziel und ihre Vision einer demokratischen und
freien Gesellschaft siegte, wenn auch mit einer anderen sozio-ökonomischen
Philosophie und Praxis, als sie ihr in den Jahren 1980-81 vorschwebte.
Wir, die Staatsmacht, hatten auf
die Situation bezogen pragmatisch Recht. Dadurch wurde eine Katastrophe
verhindert und man gelang zu einem Punkt, ab dem Veränderungen ohne
konfrontative Zusammenstöße und Zerstörungen über eine zivile und friedliche
Demontage zu erreichen waren. Ohne die Realisierung dieser zweiten Wahrheit
kann man nicht sagen, wann und wie, v. a. aber mit welchen Kosten die erste
Wahrheit erreicht worden wäre.“
(Auszüge aus: Gazeta Wyborcza,
3.10.2008; Übersetzung: Wulf Schade, Bochum)
Keine Rache sondern
Gerechtigkeit
Von Wojciech Pięciak
(...) Jaruzelski stand (...) 21
Jahre lang im Machtzentrum Polens, seitdem er 1968 Verteidigungsminister wurde.
Gleichzeitig war er vom Anfang seiner Karriere ein treuer Anhänger Moskaus. Die
Rolle, die er in verschiedenen Momenten spielte, lässt in ihm vor allem einen
opportunistischen Heuchler erblicken, einen für das „Leitungspersonal“
Mitteleuropas typischen „Menschen ohne Eigenschaften“, nur darauf konzentriert,
die Macht zu ergreifen und für sich zu behalten; dazu fähig, die Rechte der
anderen zu missachten, und dadurch auch Verbrechen zu begehen. Die Verhängung
des Kriegszustandes war eine Verletzung der Grundrechte von Millionen
polnischer Bürger wie auch der Menschenrechte, zu deren Achtung sich eben auch
die Volksrepublik als Signatarmacht internationaler Verträge verpflichtet hat.
(...)
Sprawiedliwość,
nie zemsta, TP 41 (3092) v. 12.10.2008
Ohne Regeln
Von Antoni Dudek
(...) Es kann dazu kommen, wenn
das Gericht Jaruzelskis Beteuerungen, eine sowjetische Intervention 1981 sei
unabwendbar gewesen, für wahr erklärt. Diese Behauptung bleibt das Hauptverteidigunsargument des Generals.
Allen, die immer noch daran
glauben, dass der Kriegszustand eine Alternative für eine militärische
Intervention der Streitkräfte des Warschauer Paktes war, wird empfohlen, sich
mit der zweibändigen, von IPN1
herausgegebenen Ausgabe der Dokumentation „Vor und nach dem 13.
Dezember. Ostblockstaaten angesichts der Krise in der PRL 1980-1982“ (unter
Redaktion von Łukasz Kamiński) vertraut zu
machen. Auf den über 1000 Seiten wurden Hunderte von polnischen,
tschechoslowakischen, ungarischen, bulgarischen und sowjetischen Dokumenten
veröffentlicht, die es erlauben, das psychologische Spiel zu verfolgen, das der
Kreml und seine Satelliten geführt haben, um die Behörden der Volksrepublik zu
zwingen, der „Gegenrevolution“ in Polen die Stirn zu bieten, und gleichzeitig
den Eindruck erweckt haben, dass sie andernfalls gewaltsam eingreifen werden.
In Wirklichkeit aber war es so,
wie selbst der erbittertste Gegner dieser (Gegen-)
Revolution, der NRD-Führer Erich Honecker, in einem
vertraulichen Gespräch mit Breschniew im Mai 1981
sagte: „Ich spreche mich nicht für eine militärische Aktion aus, obwohl die
Verbündeten aufgrund des Warschauer Paktes dazu ein Recht haben. Es wäre
angemessen, ein neues Leitungspersonal der PZPR2 zu formen, das bereit wäre, einen
Ausnahmezustand einzuführen und entschlossene Maßnahmen gegen die
Gegenrevolution zu treffen.“
Weil der erste Sekretär des Zentralkomitees
Stanisław Kania sich nicht zur Gewaltanwendung
entschließen konnte („Er hat uns enttäuscht und hat nie sein Wort gehalten“, so
Honecker), nahm Jaruzelski im Oktober 1981 seinen Platz ein (...).
„Wir werden keine Streitkräfte einsetzen"
Als Jaruzelski den Entschluss
über die Ausrufung des Kriegszustandes gefasst hat, war er sich nicht sicher,
ob die Operation erfolgreich wird. Deshalb fragte er durch Vermittlung des
Marschalls Wiktor Kulikow die Leitung der UdSSR, ob im Falle eines unerwartet heftigen
gesellschaftlichen Widerstandes mit sowjetischer militärischer Hilfe gerechnet
werden kann.
Dem Protokoll des sowjetischen
Politbüros vom 10. Dezember 1981 - bekannt seit 1993, als es Boris Jelzin nach
Polen gebracht hat - kann man entnehmen, dass die Russen die Bitte abgelehnt
haben. „Was die Operation X anbelangt“, stellte damals der KGB3-Chef Jurij Andropow fest, „sollte es einzig und allein eine
Entscheidung der polnischen Genossen sein: wie sie entscheiden, so wird es
sein. (...) Wir haben nicht vor, Streitkräfte in Polen einzusetzen. Das ist ein
richtiger Standpunkt und wir müssen uns daran bis zum Ende halten. Ich weiß
nicht, was mit Polen passiert, aber auch wenn der Staat unter der Herrschaft
von Solidarność geraten wird, dann ist das nur eine Sache. Denn wenn
sich auf die Sowjetunion die kapitalistischen Staaten stürzen - und sie
verfügen schon über entsprechende ökonomische und politische Sanktionen, wird
es sehr schwierig für uns.“
Der Chef des sowjetischen
Außenministeriums Andriej Gromyko wiederum sagte
während derselben Politbüro4-Sitzung: „Es kann von keinem Einmarsch der
Streitkräfte in Polen die Rede sein. Ich denke, wir können unseren Botschafter
anweisen, Jaruzelski zu besuchen und ihn darüber zu informieren.“
„Wir werden keine Streitkräfte
einsetzen“ hörte der General Mirosław Milecki
vom sowjetischen Botschafter Borys Aristow, der wie folgt reagierte: „Das ist für uns eine
schreckliche Neuheit! Anderthalbjahre dummes Gerede
über eine Intervention. Auf einmal war alles ungültig. Ist das nicht für
Jaruzelski eine schreckliche Situation?“
Wie sich herausstellte, war
Jaruzelskis Lage nicht besonders schlimm, denn der Widerstand der erschöpften
und einer soziotechnischen Bearbeitung unterzogenen
Bevölkerung zeigte sich geringer, als es der General und seine Mitarbeiter
erwartet haben. (...)
Aufgrund des Alters der
Angeklagten ist es heute schwer abzuschätzen, ob irgend ein
Urteil in diesem Prozess gefällt wird. Wichtig ist aber, dass es überhaupt zu
einem Prozess kam. Es bedeutet doch, dass die Justiz der Dritten Republik Polen
sich endlich gewagt hat, ein Ereignis rechtlich zu beurteilen, über dessen Sinn
sich in Zukunft hauptsächlich Historiker streiten werden.
Bez reguł, TP 41 (3092) v. 12.10.2008
Ich schäme mich für den
Jaruzelski-Prozess
Von Wojciech Mazowiecki
Ich kann General Jaruzelski nicht
leiden. Ich war mit seiner Entscheidung, das Kriegsrecht 1981 zu verhängen
nicht einverstanden. Er hat mich weder damals noch heute mit den Argumenten wie
„das war das kleinere Übel“ überzeugt. Das ist aber noch lange kein Grund, den
General im freien Polen wie einen gewöhnlichen Verbrecher vors Gericht zu
bringen (...).
Er will, dass der Prozess, der
ihm gemacht wird, beim Namen genannt wird, also als politischer Prozess. Und er
hat recht. (...)
Wir sehen einen alten,
kränklichen Mann (die Medien machen sich darüber lustig, weil das angeblich
vorgetäuscht ist). Er hält seine Ansprachen sehr würdevoll (besonders am ersten
Tag). Er rafft sich auf, seinen Gegnern Recht zu geben und das alles während
einer Verhandlung gegen sein historisches Handeln (die erbitterten Feinde sehen
daran nur eine Soziotechnik, die ihn glaubwürdiger
machen soll.) (...)
Richtig ist bestimmt die
Behauptung, dass Jaruzelski politisch für alles verantwortlich ist, auch für
die damaligen blutigen Befriedungen, wie die in der Zeche „Wujek“,
oder auch für die politischen Morde an Grzegorz Przemyk
und dem Priester Jerzy Popiełuszko. Er selbst
gibt nicht zum ersten mal zu, dass er besonders sich
für das alles schuldig fühlt. Und er entschuldigt sich, auch nicht zum ersten mal. (...)
Durch diesen idiotischen Prozess
wird in ein paar Jahren in Umfragen nicht mehr die Hälfte sondern die Mehrheit
der Polen den Kriegszustand loben. (...)
Ich werde wohl nie den Autoren
des Kriegszustandes verzeihen. Obwohl ich mich selbst 1981 vor der sowjetischen
Intervention fürchtete. Obwohl ich die Generäle für die friedliche
Machtübernahme 1989 schätze (sie mussten es gar nicht tun, wie die IPN-Historiker es immer behauptet haben, was im Herbst 1989
ein paar andere kommunistische Anführer bewiesen haben), stelle ich mich mit
einer historischen Beurteilung zufrieden. Ein demokratischer Rechtsstaat darf
nicht mit Hilfe eines an den Haaren herbeigezogenen Prozesses Rache nehmen.
Besser wäre, wenn man den Opfern des Kriegszustandes helfen würde. Lassen wir
es uns nicht einreden, dass wir uns das nicht leisten können.
Wstyd mi za proces
Jaruzelskiego, GW vom 17.10.2008
Schwere Zeiten leicht beurteilt
Von Karol Jasiñski
(...) Die nächste Person, die in
letzter Zeit oft ins Visier genommen wird, ist der General Wojciech Jaruzelski.
Ich bin davon überzeugt, dass (...) er als eine äußerst negative Person in die
polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts eingehen wird. Was nichts an der
Tatsache ändert, dass das letzte, woran man ihn beurteilen soll, die Verhängung
des Kriegsrechtes im Dezember 1981 ist. Jaruzelski hat zweifelsohne einige
Vergehen auf dem Gewissen, wie zum Beispiel den Überfall auf die
Tschechoslowakei oder das Massaker an den Danziger Werftarbeitern im Dezember
1970. Die Ausrufung des Kriegsrechtes wiederum halte ich für richtig und
letztendlich gut für Polen. Als sich die Stimmung in der polnischen
Gesellschaft verstärkte, was zum Krieg oder Tod von Tausenden führen konnte,
hat der General Mut und Verantwortung für seinen Staat bewiesen. Er handelte
unter extrem ungünstigen Umständen, als Chef eines Satellitenstaates, dessen
Ungehorsam mit einem Gemetzel an seiner Bevölkerung bestraft werden konnte.
Trotz seiner schmachvollen Vergangenheit zeigte sich Jaruzelski seiner Aufgabe
gewachsen und beschützte sein Land vor einer möglichen sowjetischen
Intervention. (...)
Lekkość osądu
ciężkich czasów, Myśl Polska, Nr 44 (2.11.2008)
Zwei
Kommentare aus der politischen Linken
Ich kann nicht begreifen, von
welchen Argumenten sich Politiker wie Aleksander Kwaśniewski und Medien
wie die Wochenzeitung Przegl¹d5 leiten
lassen. Ich verstehe nicht, warum man den Linken ständig einredet, dass sie
Wojciech Jaruzelski oder Barbara Blida6 verteidigen sollen, nur weil die Rechte
in ihrer Sache etwas Blödsinniges und Unvernünftiges gesagt bzw. gemacht hat.
Warum soll die Linke auf die politischen Dummheiten der Rechten mit ähnlichen
Dummheiten reagieren? Warum soll sich die Linke mit Jaruzelski, Blida oder mit anderen emeritierten Stasi-Spitzeln
beschäftigen, wenn es so viele marginalisierte und ausgeschlossene ratlose
Gesellschaftsgruppen gibt? Ich kann die Fragen selbst nicht beantworten und
finde die Antwort auch nicht bei den von mir kritisierten Fürsprechern. Ich
habe den Eindruck, dass ein großer Teil des linken Milieus sich selbst
gedankenlos eine Verteidigerrolle der PRL7 - und SLD8 -Nomenklatura
aufgezwungen hat. Solange diese Rolle nicht in Frage gestellt bzw. nicht
problematisiert wird, bleibt die Linke die schlechtere, moralisch suspekte und
vertrauensunwürdige Hälfte der politischen Szene, die unfähig dazu ist, die
Bevölkerung für sich zu überzeugen.
Bartłomiej Kacper Przybylski
Warum sollte man General
Jaruzelski verteidigen? Es gibt viele Argumente. Man kann damit beginnen, dass
er eine politische Gruppe repräsentierte, die (trotz vieler Verbrechen) eine
radikale und egalitäre Modernisierung der polnischen Gesellschaft durchgeführt
hat und damit enden, dass Jaruzelski es geschafft hat, das außer Kontrolle
geratene Projekt ohne Blutvergießen zu beenden. Angesichts dessen, was später
Leszek Balcerowicz9 getan hat, lastet auf dem General weniger Schuld als auf
den neuen regierenden Eliten. Außerdem schließen die Verteidigung der sozial
Marginalisierten einerseits und Jaruzelskis, Blidas
und der emeritierten Stasi-Spitzel andererseits einander nicht aus. Was Barbara
Blida anbelangt, will die Bevölkerung ganz sicher in
einem Staat wohnen, wo um 6 Uhr morgens nur der Milchmann an der Tür klingelt.
Und was die Stasi-Spitzel anbetrifft, von der Frage der Glaubwürdigkeit des
Staates mal abgesehen, ist es ein offenbarer Versuch der Rechten ein falsches
Bewusstsein aufzubauen, wenn sie auf die oben genannten als Objekt des
allgemeinen Zornes und Hasses hinweist. Nicht die emeritierten Stasi-Spitzel
sind schuld daran, dass die anderen Rentner ihre Rezepte nicht einlösen können.
Und noch etwas: Die Pensionen von den Uniformierten der Dritten und Vierten
Republik Polen sind viel höher als die Renten, die Zivilpersonen beziehen
unabhängig davon, ob die letztgenannten Putzhilfen oder Direktoren waren.
Aus dem Kommentar des Redakteuren
Przybylski folgt drittens, dass die Verteidigung
„Jaruzelskis, Blidas und der emeritierten
Stasi-Spitzel“ die Selbstisolierung der Linken in ihrem kulturellem
Getto zur Folge hat. Was ist das aber für ein Getto, wenn die meisten Polen die
Entscheidung über den Kriegszustand für richtig halten und Barbara Blida im Schlesien postmortal zum
lokalen Star geworden ist.
Dass das Verständnis für das
Kriegsrecht und der Protest gegen die Kriminalisierung der Volksrepublik ein
politisches Getto in Polen bilden, hat den Polen die polnische Rechte
eingeredet. Die Tatsache, dass der Redakteur Przybylski
diese Ansicht verbreitet, zeugt von ihrem großen politischen Sieg. Manchmal
reicht es aber, die Meinungsforschungen zu analysieren und schon platzt die
Seifenblase der politischen Propaganda.
Bartosz Machalica
http://www.lewica.pl/index.php?id=17544
1
IPN-Instytut Pamiêci Narodowej, dt. Institut für Nationales Gedenken
2 PZPR-Polska Zjednoczona Partia Robnicza, dt. Polnische Vereinigte Arbeiterpartei
3 KGB-rus. Komitiet Gosudarstwiennoj Biezopastnosti, Komitee für Staatssicherheit
4 Politbüro ist
die verkürzte Bezeichnung für das Politische Büro des Zentralkomitees der
Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
5 Dt. Überblick
6 Barbara Maria Blida
(1949 -2007 ) polnische Politikerin, im Zusammenhang
mit angeblichen illegalen Zahlungen an Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes
sollte sie durch Beamte des ABW festgenommen werden, beging aber vorher im
Badezimmer ihres Hauses Selbstmord.
7 Polnische Volksrepublik
8 Bund der Demokratischen Linken
9 Wirtschaftswissenschaftler und
liberaler Politiker, 1989-1991 Vizepremier und Wirtschaftsminister, 1995 bis
2000 Parteivorsitzender in der sozialliberalen Unia Wolnoœci, 1997 bis 2000 Vizepremier und Finanzminister,
2001 bis 2007 Präsident der Polnischen Nationalbank.
(Alle Übersetzungen und Anmerkungen von
Hanna Kubiak)