Wie steht es
um die Jugend in Polen?
Jahrbuch Polen
2008 des Deutschen Polen-Instituts
Von Christiane Thoms
Das aktuelle Jahrbuch gibt Einblick in die unterschiedlichen
Lebenswelten der polnischen Jugend und versucht zu ergründen, was Jungsein in
Polen heute bedeutet. Die Autorinnen und Autoren präsentieren Essays und
beziehen Position zu Gesellschaftsmodellen, Generationsbegriffen, zur Jugendkultur,
Religion und Migration. Sie stellen Eigen- und Fremdbilder in Frage.
Adam Soboczynski
hat in seinem Buch „Polski Tango“ behauptet, Polen sei eine hundesalon- und oköladenfreie Zone und das Gegenteil von Deutschland. Das
hieße, dass sich die polnische Jugend von ihren Altersgenossen im benachbarten
Deutschland unterscheidet. Nur weil hier in Deutschland wenig von Comics, HipHop
und digitaler Kunst aus Polen herüberkommt, bedeutet es nicht automatisch, dass
es so etwas in Polen nicht gibt.
Hier versucht das Jahrbuch Polen
2008 eine Lücke zu schließen, indem es Einblicke in die polnische Jugendkultur
präsentiert. Es werden Phänomene und Tendenzen geschildert, die für die
polnische Jugend prägend waren. Die polnische Jugend des 21. Jahrhunderts hat
zwar ihre Eigenarten, ist aber der deutschen ähnlicher als viele vermuten
werden.
In Polen haben die politischen
Umbrüche einen fundamentalen Wertewandel mit sich gebracht. Die freie
Marktwirtschaft lässt die Sehnsucht nach neuen Grundwerten erwachen. Heißt das
neue Sinnangebot nun Patriotismus?
Zwischen Patriotismus und Europäischer Identität
„Der polnische Nationalstolz, wie
man ihn von den Eltern kennt, passt nicht mehr zu einem Polen, das EU- und
NATO-Mitglied ist. Wenn heute Pop-Kultur-Helden der VR Polen wie Lolek und Bolek, Hans Kloss oder Tytus, Romek und A'Tomek wieder in Comics
oder auf T-Shirts auftauchen, zeugt das nicht von der Sehnsucht nach den Zeiten
der Planwirtschaft, es sind vielmehr Ikonen einer fernen Kindheit, die in der
Rückschau zur abstrakten Idylle geworden sind“, so Rainer Mende.
Das mentale Erbe der Volksrepublik
wirkt in Polen stärker nach als es auf den ersten Blick scheinen mag. Für die
polnische Jugend ist die Marktwirtschaft längst zur Selbstverständlichkeit
geworden, und doch entkommen sie nur schwer den im Sozialismus geprägten
Gewohnheiten ihrer Vorfahren. Auch sie idealisieren mitunter den goldenen
Westen und legen großen Wert auf familiäre und private Beziehungen. Sogar in
der HipHop-Szene finden sich diese Muster als soziales Fangnetz wieder.
Neue Gesellschaftsmodelle
Die polnische Jugend wächst nun
in eine gesellschaftliche Wirklichkeit hinein, die sich von der der
Elterngeneration sehr unterscheidet. Die Jugendlichen hören die Erzählungen
ihrer Eltern und Großeltern über das Schlange-Stehen vor den Läden und über
leere Regale als historische Erinnerungen. Die polnische Welt von heute ist
voller Möglichkeiten, sowohl im Bereich des Konsums und der Dienstleistungen,
als auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation und der gedanklichen
Freiheit. Sie nehmen den offenen geografischen Raum eines demokratischen
europäischen Staates mit seiner kapitalistischen Wirtschaft mit allen Vor- und
Nachteilen als gegeben hin.
Doch sollte man nicht den
jeweiligen kulturellen Sozialisierungskontext beleuchten, um die moderne
polnische Jugend zu beschreiben? Die Zusammenhänge lassen sich sicherlich
besser begreifen, wenn die sozialen Unterschiede zwischen der Zeit vor der
Wende und der Gegenwart berücksichtigt werden.
Der Jugendsoziologe Jacek Kurzêpa beobachtet, dass die Welt der heutigen Jugend eine
andere Art von Prägungen und Bedrohungen bietet, als es noch vor fünfzehn
Jahren der Fall war. Seine Untersuchungen zeigen eine Jugend, die enorme
Schwierigkeiten hat, mit problematischen Situationen umzugehen. Für polnische
Teenager heißt der heutige Alltag „Konkurrenzkampf“: Kampf um bessere
Schulnoten und bessere Positionen auf den Immatrikulationslisten der
Universitäten. Je größer die Kluft zwischen den einzelnen gesellschaftlichen
Milieus ist, desto schwieriger wird der Kampf empfunden. Kinder und Jugendliche
aktivieren durchaus riskante Verteidigungsmechanismen, sobald sie merken, dass
sie anders oder schlechter sind. Die Folge sind oft psychische Angststörungen
mit depressivem Hintergrund.
Der Westen ist Futur, der Osten Vergangenheit
Bartosz
Wieliñski hat sich mit dem Thema „Generation
Migration“ auseinandergesetzt. Er kommentiert die Beobachtung, dass immer mehr
junge Emigranten angeblich wegen der sogenannten
„Kohle“ das Land verlassen. Aber das scheint nur die halbe Wahrheit zu sein.
Tatsache ist, dass in Irland das Durchschnittseinkommen viermal so hoch als in
Polen ist. Der verlockende Westen bietet den Emigranten nicht nur höhere
Gehälter, sondern auch Stabilität und bessere Zukunftsaussichten. Genau das
konnte Polen ihnen scheinbar bisher nicht versprechen.
Kann man Sex auch ohne Liebe haben?
Als Leserin und Leser stoßen Sie
auch auf brisante Themen wie die religiöse Wende oder die Erfahrungen mit
Partnerschaft und Sex. Die Familie besitzt als Wert- und Lebensziel für die
polnische Jugend oberste Priorität. Wie ist dann aber zu erklären, dass es im
europäischen Vergleich die wenigsten Kinder pro Frau in Polen gibt? Bernadette Jonda hat eine Erklärung. Das Modell polnischer Familien
ähnelt immer mehr dem westeuropäischen Muster: Die Scheidungsrate ist in Polen
gestiegen, die Zahl der außerehelich geborenen Kinder ebenfalls. „Obwohl die
Pluralisierung dieser Lebensformen immer mehr fortschreitet, werden die meisten
Kinder in Polen (im Jahr 2005 fast 82%) in Familien geboren (GUS 2007:5), die
von miteinander verheirateten Eltern gegründet wurden, und der Anteil der
Jugendlichen unter 18 Jahren, die in Polen nicht im Elternhaus - mit beiden
Eltern zusammen - leben, war 2001 verschwindend gering (3%)“. Dabei ist
sicherlich zu berücksichtigen, dass in Polen die Bedingungen für Ehe und
Familie im Vergleich zu Ost- und Westdeutschland sehr ungleich waren und immer
noch sind. In diesem Zusammenhang ist der Einfluss der Katholischen Kirche auf
die polnische Jugend sicherlich maßgeblich.
Vor diesem Hintergrund der Fragen
nach Familie und Ehe wurde 2001 eine Studie durchgeführt. Es war die Meinung
der jungen Menschen zur Liebe und zu sexuellen Kontakten gefragt. „Das
Nichteinverstandensein mit der Aussage „Junge Menschen sollten bis zur Ehe
damit warten, sexuelles Zusammenleben zu beginnen“ steigt in der Regel mit
zunehmendem Alter um einige Prozentpunkte. Besonders auffallend sind die
altersbedingten Unterschiede in Polen, wo 78% der 22- bis 24-Jährigen gegenüber
44% der 15- bis 17-Jährigen dem genannten Statement eine Absage erteilen. (...)
Mit zunehmendem Alter verändert sich in Polen bei beiden Geschlechtern die
Zustimmung zu der Meinung „Sex kann man auch ohne Liebe haben“. In der
Alterskategorie 22 bis 24 Jahre ist die Einstellung polnischer und ostdeutscher
Jugendlicher ziemlich ähnlich: 40% der polnischen 22- bis 24-jährigen Männer
und 41% der gleichaltrigen ostdeutschen Männer erteilen der Aussage „Sex kann
man auch ohne Liebe haben“ eine Absage. Ähnlichkeiten gibt es auch bei den 22-
bis 24-jährigen Frauen: In Polen lehnen 66,5% und in Ostdeutschland 63% die
Aussage ab, dass man „Sex auch ohne Liebe haben kann“.“
Generacja Nic (Generation Nichts)
Die Jugend in Polen mag bei
einigen Problemen vielleicht ratlos sein, aber apolitisch sind sie nicht. Am
deutlichsten wurde das in den letzten Jahren in der Debatte um die sogenannte „Generacja Nic“ (Generation Nichts), die im Herbst 2002 von Kuba Wandachowicz, dem Sänger der Punkband „Cool Kids of Death“, angestoßen wurde. In der Gazeta
Wyborcza machte er dem Ärger seiner Generation Luft.
Die Jugend steht gut ausgebildet in den Startlöchern, finde aber keinen Platz
in der Gesellschaft.
Die Leserinnen und Leser können
mit diesem gelungenen Jahrbuch Polen 2008 einen sehr breiten Einblick in das
lebhafte Jugendmilieu in Polen gewinnen. Der Reigen aus eigenen Erfahrungen,
Beschreibungen, Vergleichen und Stellungnahmen der sehr unterschiedlichen
Autoren spiegelt sich in diesen gut ausgesuchten und vielseitigen Essays wider.
Ein geglückter Versuch, das eine oder andere verstaubte Vorurteil schrumpfen zu
lassen. Informativ, aufklärend und unterhaltend!
Die polnische Jugend scheint also
längst in Mitteleuropa angekommen zu sein. Es wird auf deutschen Hauptstraßen
bereits gemunkelt, dass man in polnischen Seitengassen schon die ersten
Hundesalons und Ökoläden entdecken kann.
Jahrbuch Polen
2008, Band 19/Jugend, Herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut Darmstadt,
Redaktion: Andrzej Kaluza, Jutta Wierczimok,
Wiesbaden 2008, 11,80 €
Statistik
belegt Gesellschaftswandel
Ende 2005 lebten in Polen
6.185.400 junge Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren. Somit machen sie gut
16% der Gesamtbevölkerung aus.
Das Durchschnittsalter von
Frauen, die 2005 in Polen heirateten betrug 25 Jahre (1990:23 Jahre), von
Männern: 27 Jahre (1990:25,5 Jahre).
Das Durchschnittsalter von Frauen in Polen, die 2005 ihr erstes Kind geboren haben, ist im Vergleich zum Anfang der 1990er Jahre von 23 auf 25,4 Jahre gestiegen. Während in den Jahren 1995-2002 jährlich ca. 40.000-45.000 Ehen in Polen geschieden wurden, ließen sich 2006 ca. 70.000 Paare scheiden.
Cool Kids of Death (C.K.O.D.)
Der Name der 2001 in Łódź gegründeten Gruppe „Cool Kids of Death“ (C.K.O.D) wurde von einem gleichnamigen Songtitel
der britischen Independent-Popband „Saint Etienne“ übernommen. Die Musik ist
für die Mitglieder der Gruppe nur eines von vielen Betätigungsfeldern. Der
Bassist der C.K.O.D. Kuba Wandachowicz (mit Maske)
publizierte in der großen polnischen Tageszeitung Gazeta
Wyborcza ein Manifest unter dem Titel Generation
Nichts, über eine Generation, die sich nach Meinung des Autors „im geistigen
Zerfall“ befindet. Sein Manifest rief eine große Diskussionswelle hervor und
stilisierte den Autor und seine Gruppe zur „Stimme seiner Generation“.
Die Musik der Gruppe ist durch die kreischende Stimme des Sängers Krzysztof Ostrowski, durch den ungeheuren Krach und den starken Bass gekennzeichnet. Die Musiker knüpfen auch an die Punk-Tradition an. Bisher hat die Gruppe zwei Alben veröffentlicht: C.K.O.D. und C.K.O.D.2, die sowohl vom Publikum als auch von der Kritik enthusiastisch aufgenommen wurden. Auf dem deutschen Markt ist die englischsprachige Version der C.K.O.D.2 verfügbar.
Agata „Endo“
Nowicka
Agata Nowicka (geb. 1976) ist die zurzeit vielleicht bekannteste
Zeichnerin, Grafikerin und Illustratorin Polens. Sie wurde schlagartig berühmt,
als ihr Blog komiks.blog.pl 2001 online ging. Das
Besondere daran war, dass sie in diesem Blog ihr
Leben nicht in Worten, sondern in simplen, mit „Paint Brushe“
erstellten Grafiken und Comics erzählt. Ihre Bilder zeichnen sich durch
Sensibilität, eine scharfe Auffassungsgabe sowie eine ordentliche Portion
Selbstironie aus. Und auch wenn ihre Zeichnungen größtenteils Situationen aus
ihrem Leben schildern, haben sie immer einen gewissen universellen Charakter
und werden so zu einem kritischen Spiegelbild der Gesellschaft. Nowicka lernte am Kunstgymnasium in Gdingen, danach
studierte sie an der Hochschule für Gesellschaftspsychologie in Warschau, heute
ist sie Chefredakteurin des Lifestyle-Magazins Exclusive.
Mittlerweile ist sie mit ihren Illustrationen in vielen bekannten polnischen
Zeitschriften und auf Cover polnischer Ausgaben internationaler Blätter
vertreten (Elle, Lampa, Aktivist, Metropol).
2006 erschien ihr Comic-Album Projekt: człowiek
(Projekt: Mensch), ein autobiografischer Bericht ihrer eigenen Schwangerschaft.
Mit diesem löste sie eine hitzige Debatte über die Grenzen des Exibitionismus im Bereich der Kunst aus.
Quelle: Tekstylia bis, Kraków 2007
Cześć Tereska (Hi, Tereska)
Regie: Robert Gliñski, Polen 2000
Die 15-jährige Tereska (Aleksandra Gietner) lebt, wie
wohl die Mehrheit polnischer Familien, in einem tristen Wohnblock. Die
Familienverhältnisse sind schwer: Der Vater, arbeitslos, ist Alkoholiker und
hat regelmäßige Wutausbrüche, die Mutter, eine regelmäßige Kirchgängerin,
berufstätig, erträgt diese mit Geduld. Ununterbrochen läuft der Fernseher, die
kleine Schwester lebt mit Tereska in einem Zimmer, die Wohnung hat gerade mal 3
Zimmer. Alles wirkt sehr eng, irgendwie begrenzt.
Tereska ist künstlerisch begabt.
Sie singt im Kirchenchor und träumt davon, Modedesignerin zu werden. Ihre
Mutter unterstützt sie, ermöglicht ihr den Besuch einer Schneiderinnenschule
und hofft, dass es Teresa gelingen wird, einmal ein besseres Leben zu führen.
Teresa lernt schnell; allerdings
bleibt das behütet aufgewachsene Mädchen Außenseiterin. Die Situation ändert
sich peu a peu, als Tereska die selbstbewusste Renata, eine Mitschülerin, kennenlernt und sich mit ihr anfreundet.
Renata beginnt, Tereska in ein Leben einzubinden, das sich durch „Abhängen“, Biertrinken, Rauchen und Jungs auszeichnet. Ein Abwärtsstrudel der Gewalt beginnt: Tereska vernachlässigt die Schule und den Kirchenchor und gerät zunehmend in Konflikt mit ihren Eltern.