Polonica in Bibliotheken und Archiven

 

Von Udo Kühn

 

Im Rahmen unserer Dokumentationsarbeiten recherchierte ich in den siebziger Jahren in über hundert Bibliotheken und Archiven in der Bundesrepublik sowie in Berlin. Auch in verschiedenen anderen europäischen Ländern wurden gezielt Recherchen durchgeführt. Besonders interessante Einblicke erwarteten mich in der Schweiz, weil dort die Bibliotheksbestände unbeschadet vom Zweiten Weltkrieg vorhanden sind und die Polen zur Schweiz außerdem immer schon besondere Beziehungen hatten.

 

So gibt es in Solothurn in der Schweiz ein Kościuszko-Museum, dem großen polnischen Freiheitshelden Tadeusz Kościuszko [1746-1817] gewidmet; er starb in Solothurn. Dort fand ich eine kleine Broschüre mit dem Titel "Im polnischen Liedergarten - Sammlung polnischer Volkslieder", herausgegeben von der Schweizerischen Polenhilfe im Jahre 1944, also auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs vor seiner Beendigung 1945. Diese Schrift wurde veröffentlicht auf Initiative der polnischen Studenten der Universität Fribourg und mit Unterstützung des polnischen Fonds für Nationale Kultur (Fundusz Kultury Narodowej). Besonders beeindruckt mich die Einleitung, weil sie in die selbst erlebte Zeit von 1944 so treffend zurückversetzt.

Zygmunt Estreicher-Rozbierski schrieb damals: "Das Jahr 1944 geht seinem Ende entgegen. Seit mehr als fünf Jahren wütet der Krieg, seit mehr als fünf Jahren stauen sich Flüchtlinge und Verbannte aller Nationen auf den Wegen fremder Länder. Alle leiden für große Dinge. Einfache Menschen hat das Schicksal zu Helden gemacht, außergewöhnliche Menschen sind unter seiner Last gebrochen; die Welt ist zu einer Bühne geworden, auf welcher große Leidenschaften und große Opferwilligkeit kämpfen, und die ganze Menschheit wurde zur Hauptfigur dieser Tragödie. Doch ist es schwer, an den Menschen zu denken, wenn man an die Menschheit denkt. Es ist schwer, wenn man sich einer großen Sache widmet, gleichzeitig sein Interesse solch geringen Dingen zu schenken, die zwar nicht den Zweck des Lebens bedeuten, ihm jedoch Gehalt verleihen.

Fast überwältigt uns die Größe der jetzigen Erlebnisse. Um wieder Kräfte zu sammeln, bedürfen wir einer kurzen Entspannung und sollte sie nur einen Augenblick dauern. Wir brauchen Wörter ohne Pathos, Gefühle ohne Leidenschaft, Gedanken ohne Unruhe! Wir bedürfen jener Stimmung, die man im eigenen Heim, im eigenen Vaterlande findet, jener Erholung, die uns einfache Menschen und leichte Aufgaben schenken, solche Menschen und Aufgaben, die man liebt und nach denen man sich sehnt. Sehnt man sich nicht immer nach unwichtigen Dingen?"

Wer sich mehr dafür interessiert, dem sei folgende Schrift empfohlen: Pro Polonia (Hrsg.), “Polen und die Schweiz; Ihre Beziehungen im Laufe der Jahrhunderte und während des Zweiten Weltkrieges”, Solothurn 1945; vorhanden in der Zentralbibliothek Zürich [3. Februar 1973] und in der Universitätsbibliothek Basel.

Aber auch in der Bundesrepublik gibt es neben den großen Osteuropa-Bibliotheken, wie beispielsweise in Berlin und München, interessante alte Quellen zur polnischen Geschichte, Kultur und Gesellschaft zu entdecken. Die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen archiviert einen Bandkatalog (ab 1930 als Zettelkatalog) mit dem Titel "Historia Polonica (Prussica)" aus den Jahren 1694 bis 1945, insgesamt 1139 Titelnachweise. Der Inhalt ist zum Teil in lateinischer und polnischer Sprache.

Inzwischen, vermutlich eine Rarität geworden, ist die "POLONICA in den Verlagen der Bundesrepublik Deutschland 1946-1966", herausgegeben vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, 1966; eine Auswahl, ausgestellt auf der 11. Internationalen Buchmesse in Warschau. Ich habe sie in der Bibliothek des Westdeutschen Rundfunks in Köln gefunden. Sicher ist sie auch noch in anderen Bibliotheken vorhanden.

Ein "Geheimtip" sind die Bestände der alten Bibliothek des Priesterseminars in Fulda. Dort befinden sich Bücher über Polen aus fünf Jahrhunderten; interessant ist auch der alte Kapselkatalog, mit dem die reichhaltige Bibliothek seinerzeit erschlossen wurde. Inzwischen konnten wir insgesamt 89 Titel daraus erfassen, die sich irgendwie mit Polen befassen. Das fängt mit Paulus Jouius im Jahre 1560 an: Eine wahrhaftige Beschreibung aller namhaften Geschichten von 1494 bis 1547; Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche von Heinrych Pantaloen; erschienen in Basel. Beschrieben werden der Krieg zwischen Polen und Moldau und der Türkenkrieg.

Polonica in der neueren Zeit

Diese Recherchen aus den siebziger Jahren eignen sich auch besonders dafür, um festzustellen, was sich in den letzten dreißig Jahren mit dem Informationsangebot über Polen verändert hat; also nach Abschluß des  Warschauer Vertrages im Jahre 1970.

Nehmen wir das Beispiel der Stadt Esslingen am Neckar. In der dortigen Stadtbücherei gab es im Januar 1973 bei einem Gesamtbestand von ca. 50 000 Büchern unter den Katalogeintragungen zur Kategorie "C. Erd-, Länder- und Völkerkunde / Ceo. 2 Polen" keinen Titelnachweis. Immerhin wurden zur "Geographie - Reisen" unter "R 190. Polen" insgesamt 5 Titel verzeichnet. Vergleichsweise "R 160. Italien" waren es 123 Titel. Unter "E. Geschichte - Osteuropa" gab es weitere 6 Bücher zum Ausleihen. Das Angebot hat sich dann nach zwei Jahren [Januar 1975] bei der zuerst aufgeführten Kategorie von Null auf sieben erhöht. Recherchiert man aber heute im Internet zur Stadtbücherei Esslingen unter dem Stichwort "Polen" erscheinen 144 Eintragungen. Ein gewaltiger Fortschritt!

Sicher hat an diesem Interesse auch der Kreisjugendring Esslingen einen großen Anteil, bemühen sich seine Mitglieder doch schon über dreißig Jahre um einen ständigen Informationsaustausch mit Polen. Auch gab es bereits im April 1980 "Polnische Tage" im Landkreis Esslingen.

Leider sind auch Einschränkungen zu verzeichnen. So hatte das Gesamteuropäische Studienwerk [GESW] in Vlotho bis Anfang 1973 zu Osteuropa bereits eine Bibliothek mit ca. 32 000 Bänden aufgebaut, davon allein über 600 Periodika; diese Bibliothek wurde aber vor einigen Jahren "geschlossen", wie jetzt über eine Nachfrage per E-Mail zu erfahren war. Vielleicht fehlt der "Motor" in der Person von Armin Dross, der lange Jahre eine sehr aktive Mitarbeit im GESW praktizierte; er übersetzte übrigens bereits 1967 Janusz Korczak.

Neuere Informationseinrichtungen sind das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt und die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder mit reichhaltigen Buchbeständen. So hat das 1981 auf Initiative von Karl Dedecius gegründete Polen-Institut eine beachtliche Bibliothek aufgebaut; im Jahre 2000 waren es bereits ca. 40.688 Bände (einschließlich der Zeitschriften). Das liest sich in einer Bilanz von Angela Miemietz-Thiel zum zwanzigjährigen Bestehen so:

"(...) Der Kern der Sammlung wurde bei Gründung des Instituts von Karl Dedecius eingebracht. Durch eine Spende der Robert Bosch Stiftung in den Jahren 1980-1982 und durch Schenkungen polnischer Verlage, Bibliotheken und Institute konnte die Bibliothek zügig erweitert werden. Weitere Spenden von Privatleuten, Stiftungen und der Industrie ermöglichten den Ausbau über die im Etat vorgesehenen Mittel hinaus. 1994 bewilligte die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit dem DPI zusätzliche Mittel für den Einkauf von polnischen Nachschlagewerken und Wörterbüchern, die die Lücken nach 1989 - an neubearbeiteten bzw. zuvor nur im Untergrund erschienenen Titeln - schließen sollen. Die im Jahre 1997 von der Stiftung erneut bewilligten Mittel und vor allem eine großzügige Spende der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius im Jahre 1999 ermöglichen es, den Buchbestand in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Soziologie zu ergänzen und die Zeitschriftenabonnements um neue Titel zu erweitern.

Die polnische Literatur im Original macht einen wesentlichen Teil des Buchbestandes aus und ist in diesem Umfang einmalig in Deutschland; ihr Anteil am Gesamtbestand beträgt 33%. Die polnischen und deutschen Übersetzungen machen ca. 12% aus. Geschichte und Politik sowie Titel zu deutsch-polnischen Beziehungen betragen 25%. Die Buchschenkung von Dieter Bingen (ca. 1.000 Bücher und Zeitschriften) erweitern und ergänzen den vorhandenen Bestand.

Die Bücher sind in einem alphabetischen und einem Sachkatalog erfasst. 1990 wurde der gesamte Katalog auch elektronisch gespeichert. Seit 1993 werden die Neuzugänge mit dem Bibliotheksprogramm allegro-C eingegeben. Der gesamte Datenbestand ist im Internet unter http://elib.tu-darmstadt.de/digibib/region.html zugänglich.

Im Jahre 2006 erreichte der Bestand 50.000 Titel und es bleibt zu wünschen, dass die Stadt Darmstadt bei ihren langjährigen Bemühungen erfolgreich zum Zuge kommt und dem Deutschen Polen-Institut größere Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, die besonders einer besseren Nutzung der Buchbestände zugute kommen sollen. Aber vielleicht ist es auch die eigene Veränderung in mir selbst, die Freude und der morgendliche Optimismus, die sich im Laufe der Zeit in Polen in mir ausgebreitet haben.

"Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker." hat Che Guevara einmal gesagt. Erst hier werden mir die Bedeutung und die Dringlichkeit dieses Satzes bewusst. Ich wurde einige Male auf meinen Anstecker mit dem berühmten Che-Guevara-Abbild angesprochen. Ich dachte, die Frage, welcher Mann dies sei, wäre ein Witz. Mein Versuch, einen kurzen Überblick und Eindruck von Che zu geben und dann auch noch in Polnisch, ist mir, glaube ich, nicht sehr gut gelungen. Dennoch haben sich mir im Laufe der Zeit viele Dinge erschlossen, die mit Solidarität zusammen hängen. Die Republik Polen strahlt vielleicht nicht nach außen, aber zumindest in kleinen Teilen des Landes wie Mikołajki, Solidarität aus. Zum Beispiel im Januar des Jahres die Veranstaltung "Wielka Orkiestra świątecznej Pomocy", die jährlich für Hilfsbedürftige Menschen landesweit organisiert wird. Die Herzaktion ging auch durch deutsche Medien und sicherlich wird sich der eine oder andere noch daran erinnern. Oder auch meine individuelle Erfahrung der Einladung einer kleinen Familie, an Ihrem Osterfest teilzunehmen. Das Osterfest hat in Polen eine ganz andere Bedeutung und einen anderen Stellenwert als in Deutschland. Desto mehr verwundert und angenehm überrascht war ich. Beinahe alle Menschen, die ich in Miko³ajki und Umgebung kennen gelernt habe, haben die gleichen katholischen Traditionen und Bräuche durchgeführt. Die Intensität hing von der jeweiligen Glaubensstärke ab. Eines habe ich schnell erfahren: Die Kirche ist beinahe überall präsent und man sollte sich an ihre meist in schwarz bekleideten Vertreter gewöhnen. Ob in der Schule oder zum halbstündlichen Glockenrhythmus. Die Kirche ist Treffpunkt und zentraler Ort der Stadt.

Eine weitere Überraschung war für mich der Feiertag des Dritten Mai. Schon am Vorabend wurde für den Konstitutionstag die polnische Flagge auf der Fahnenstange gehisst. Allein in der Straße meines Gastfamilienhauses war mindestens jedes zweite Haus mit einer Flagge geschmückt. Für mich war dies eine ganz neue Erfahrung, da wir Deutschen aus geschichtlichen Gründen diese Tradition nicht mehr pflegen und ich bis jetzt noch nie damit in Kontakt gekommen bin. Für mich war dies auch ein Zeichen, dass sich die Polen mit ihrer Republik identifizieren, obwohl die politische Situation mehr als schlecht aussieht. Eine Regierung der PiS (Recht und Gerechtigkeit) und der SO (Samoobrona) werden wohl nie der angespannten sozialen Lage im Lande standhalten können. Eine "solidarische IV Republik" ist die falsche Bezeichnung für öffentlich geäußerte Fremdenfeindlichkeit von bestimmten polnischen Politikern unter schwarzem Deckmantel der katholischen Kirche, angeführt vom Priester und Besitzer "Radio Marias". Mein bisheriger Eindruck in der vom Tourismus lebenden Kleinstadt Mikołajki zur laufenden Politik in Polen, ist verschieden. Einige Personen zeigen totales Desinteresse, andere wiederum machen Witze und verspotten die manchmal unglaublichen Aktionen der regierenden Politiker und ganz andere hoffen auf die Zukunft durch die EU-Erweiterung.

Dazu gehören zum Beispiel die Jugendlich en aus dem Marion-Dönhoff Lyzeum, die den ganzen Mai über Abiturprüfungen vorrangig in Deutsch und Englisch ablegten. Die Zukunft sehen die fast 18-Jährigen durch die Erschließung der Welt. Die Repräsentation eines gastfreundlichen, sauberen und starken Landes Polen erkennt man in den Augen der fleißigen Studenten. Mit Anzug und gediegenem Rock startet diese neue Generation allerdings vom Abitur in eine eher miserable Arbeitswelt. Doch eines habe ich von dem polnischen Gemüht und der polnischen Mentalität mitbekommen: Die Aufbruchstimmung und der Optimismus brodeln immer in den Seelen, auch wenn sie momentan nicht besonders zum Ausdruck kommen.

Die Außenwelt bekommt die kleinen Dinge, die individuell in den Gemeinden vonstatten gehen, nicht zu Gehör. Einige Male habe ich die Fortschritte und Veränderungen in den Köpfen der normalen polnischen Bevölkerung beobachten dürfen. Jeder versucht mit seinen eigenen Kräften und eigenen Möglichkeiten die Lebensbedingungen zu verbessern. Ein Beispiel dafür ist der "Dzień Europejski" in der Grundschule der Gemeinde Woznice. Das Dorf liegt sieben Kilometer von Miko³ajki entfernt. Das zehn Personen starke Lehrerpersonal für die 85 Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren hat einen enormen Zusammenhalt. Es wird Hand in Hand alles für die Kinder organisiert. Ein beschämendes Gefühl überkam mich, als ich herzlichst, es fehlte nur noch der rote Teppich, und mit selbst gebackenem Kuchen empfangen wurde. Stolz wurden mir die selbst gestalteten Klassenräume gezeigt. Nicht nur allein daran konnte ich sehen, wie sehr die Kinder im Mittelpunkt stehen, sondern auch an der sehr aktiven und immer glücklichen "Pani Direktor". Sie hat jedes ihrer Kinder in ihr großes Herz geschlossen. Am Beginn der Veranstaltung, die ein Europa Quiz und eine internationalen Mini Playback Show umfasste, bekam ich den nächsten Schock. Alle Kinder, manche nicht größer als einen Meter, begannen stehend die Europäische Nationalhymne zu singen. In meiner bisherigen Schulausbildung musste ich noch nicht einmal meine eigene Nationalhymne auswendig lernen! Ich möchte mit diesem Beispiel verdeutlichen, dass es in Polen nicht nur die Clowns der politischen Schaubühne gibt, sondern auch die unbekannten Talente und Magier. Der Weg ist lang, aber die Frucht trägt die Jugend, die durch fleißige Helfer in eine Richtung gelenkt werden. Das Ziel auf dem langen Weg ist noch veränderungsfähig, aber die ersten Akteure können bald in die Manege gehen.

Auch Miko³ajki hat den Vorhang für die Sommersaison geöffnet. Der lange Winterschlaf hat endlich ein Ende gefunden. Auch wenn schon Anfang April die Frühlingsblüher ihre Köpfe aus der harten Erde steckten, war es für die seit Monaten zugefrorenen Seen keine Leichtigkeit, die dicke Eisschicht abzulegen. Je wärmer es wurde, desto mehr Türen und Fensterläden öffneten sich und desto mehr Leuten begegnete man auf den sonst leeren Bürgersteigen. Der Winterputz für den schnell kommenden Tourismus passierte in einer unheimlichen Art und Weise. Beinahe kam der Wechsel von Heute auf Morgen und die Straßen füllten sich mit Eis schleckenden Deutschen Reisegruppen. Dabei beschäftigt sich mein Herz mit einem Gedanken: Dieser Durchreisetourismus sieht niemals die vielen Storchfamilien im Naturschutzgebiet und wird niemals das Gefühl verspüren, ein Teil der Stadt zu sein. Ich versuche mich in die Stadt zu integrieren und mich durch meine Arbeit jeden Tag mehr zu verändern. Ob es beim Winterputz mit Plastiksäcken durch den Wald und Park ging oder bei der Unterstützung eines alten Mannes, seine schweren Einkaufstaschen nach Hause zu transportieren.