Von Holger Politt
In einer im Februar 2004 vom renommierten polnischen
Meinungsforschungsinstitut CBOS durchgeführten Umfrage nannten 57% aller
Befragten auf die Frage, welche EU-Staaten Polen am wenigsten gesonnen seien,
die Bundesrepublik Deutschland. Auf Platz zwei folgte Frankreich mit 54%
(Mehrfachnennungen waren möglich). Da Spanien gleichzeitig als stärkster
Verbündeter unter den EU-Staaten genannt wurde, kann leicht abgelesen werden,
wie stark der Einfluss der Medienberichterstattung im Zusammenhang mit dem
gescheiterten EU-Gipfel vom Dezember 2003 ist. Dennoch sollte nicht übersehen
werden, dass das augenblicklich schlechte Meinungsbild über Deutschland bei
unseren östlichen Nachbarn mit zwei weiteren Sachverhalten eng zusammenhängt:
Erstens mit der restriktiven Haltung der Bundesregierung in der Frage der
Öffnung der Arbeitsmärkte für die Bürger der die EU erweiternden Länder (mit
Ausnahme Maltas und Zyperns); zweitens mit der im Sommer/Herbst 2003 erneut aufgebrochenen
Diskussion um das sogenannte Zentrum gegen Vertreibungen.
Als vor gut zwei Jahren eine erste Welle der
Geschichtsvergessenheit in Form der unsäglichen Diskussion um die Beneš-Dekrete
Tschechien und abgeschwächt die Slowakei traf, gab es zwar in den polnischen
Medien vereinzelte warnende Stimmen, doch da die Regierung schnell Entwarnung
gab, verhallten sie weitgehend ungehört. Offiziell nämlich meinte Warschau, die
Polen betreffende rechtliche Lage sei eine gänzlich andere. Alle die ehemalige
deutsche Bevölkerung jenseits von Oder und Neiße betreffenden Maßnahmen folgten
lediglich den Beschlüssen und Erlassen der Siegermächte, so dass es im
polnischen Fall keinen an Beneš gemahnenden Fall gebe. Erst nach diesen
Beschlüssen wurden von polnischer Seite die entsprechenden Maßnahmen ergriffen.
Wer Wiedergutmachung oder ähnliches fordere, müsse sich an die damaligen
Siegermächte wenden. Und weiter: Diese Fragen gehörten der Vergangenheit an,
sind folglich in der Obhut der Historiker gut aufgehoben, und sollten das
deutsch-polnische Verhältnis so kurz vor Polens Beitritt zur EU nicht belasten
oder gar vergiften.
Tatsächlich schien es lange Zeit,
als sei nach diesem strikten Hinweis diese die gegenseitigen Beziehungen
belastende Frage vom Tisch. Zwar moserten die zuständigen „Landsmannschaften“
weiter herum, doch von offizieller bundesdeutscher Stelle wurde regelmäßig
Entwarnung gegeben. Die deutsch-polnischen Beziehungen seien so gut wie noch
nie in den zurückliegenden 200 Jahren. Keiner solle doch den Deutschen
unterstellen, ihnen sei an einer Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs
gelegen. Die Sehnsucht nach der und die Beschäftigung mit der alten Heimat
indes könne nicht untersagt oder eingeschränkt werden. Im Gegenteil: Dieser
Teil der Traditionspflege sei zu einem festen und wertvollen Bestandteil der
deutsch-polnischen Verständigung geworden. Ganz in diesem feinen Sinne trat
Erika Steinbach im September 2003 in Warschau mit dem unschuldigen Argument vor
das Publikum, wonach sich vor allem die „Vertriebenverbände“ in Deutschland
intensiv mit Fragen der jüngsten Geschichte im mitteleuropäischen Raum befassen
und dabei selbstverständlich auch polnisches Leid – das der „Vertreibung“ von
Ost nach West – nicht aussparen würden. Wer sonst noch in Deutschland, so ihre
rhetorische Frage, würde sich für dieses Leid interessieren?
Was harmlos aussieht und
beiläufig hingeworfen scheint ist bei näherem Hinsehen kreuzgefährlich und
wohlüberlegt. Das Schicksal, welches Millionen Bürger Polens nach Beendigung
der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs oftmals mehrere Hundert Kilometer
nach Westen verschlug, wird ohne historische Einordnung dem Schicksal der
„Heimatvertriebene“ genannten Deutschen an die Seite gestellt. Auch sie seien
doch im Grunde vor allem Vertriebene, die ihrer Heimat verlustig gegangen sind.
Im Unterschied zu den Tschechen kennen die Polen also das „Leid der
Vertreibung“ aus eigener Erfahrung. Folglich läge der nächste Schritt nahe, gemeinsam
und ganz im europäischen Sinne der Sache zu gedenken.
*
Zunächst und vor aller Erörterung
sollte die Tatsache hervorgehoben werden, dass alle territorialen Veränderungen,
die Polen am Ausgang des Zweiten Weltkriegs betrafen, eine direkte Folge des
Überfalls Hitlerdeutschlands auf Polen gewesen sind. Der Ausbruch des Zweiten
Weltkriegs - und kein anderes historisches Ereignis – stellte die polnische und
darüber hinaus europäische Öffentlichkeit vor die entscheidende Frage, was nach
einem Kriegsende aus der damaligen deutsch-polnischen Grenze werden solle. Ohne
die interessante, weil wechselvolle und in den konkreten Kriegsverlauf
eingebettete polnische Auseinandersetzung um die zukünftige Grenzziehung an
dieser Stelle auch nur annähernd vollständig nachzeichnen zu können, sollen
dennoch weitgehend vergessene Zusammenhänge in Erinnerung gerufen werden. Den
Historikern sind diese Tatsachen selbstverständlich bekannt, doch in ihrem
Meinungsbild begnügen sich die meisten Deutschen letztlich mit der Auffassung,
neben Tschechen hätten vor allem die Polen – den Ausgang des Zweiten Weltkriegs
ausnutzend - den Deutschen Territorien in Größenordnungen weggenommen.
Bereits kurze Zeit nach
Kriegsausbruch positionierte sich die polnische Regierung (später die Londoner
Exilregierung) mit der verständlichen Forderung, die bisherige Grenzziehung zu
Deutschland bei einer möglichen Nachkriegsregelung zu Gunsten Polens zu
überdenken. Das betraf vor allem die Zukunft Ostpreußens und des Oppelner
Gebietes. Damit wurden die Ergebnisse der durch den Völkerbund 1920
durchgeführten Volksbefragungen über die territoriale Zugehörigkeit der betreffenden
Gebiete, die Polen bis zum Kriegsbeginn im September 1939 ohne Einschränkungen
akzeptiert hatte, in Frage gestellt. Natürlich spielte diese Position in den
internationalen Beziehungen in den ersten Kriegsjahren noch eine untergeordnete
Rolle. Erst als mit den Siegen der Armeen der Antihitlerkoalition tatsächlich
eine Nachkriegsordnung in Mitteleuropa in greifbare Nähe rückte, gewann das
Thema auch international an Brisanz.
Die Haltung der polnischen
Exilregierung in London und des durch sie geleiteten Widerstands in Polen war
relativ eindeutig: Die territorialen Zugewinne im Norden und Westen gegenüber
Deutschland – begründet allein aus Sicherheitsinteressen - sollten nichts
ändern am Grenzverlauf im Osten, wie er vor allem im Vertrag von Riga zwischen
Polen und Sowjetrussland 1921 festgelegt wurde. Damals einigten sich beide
Seiten unter der Last des Faktischen auf einen heiklen Grenzverlauf. Das nach
den Jahrzehnten der Dreiteilung wiedererstandene Polen reichte zwar räumlich
und beinahe im Anklang an die einstige Adelsrepublik weit in Gebiete hinein, in
denen mehrheitlich Ukrainer und Belorussen siedelten. Allein die wenigen
größeren Städte waren mehrheitlich polnisch und jüdisch bewohnt. Doch zu der
beabsichtigten und gegen Russland ausgerichteten Föderation mit der Ukraine,
Belorussland und Litauen kam es nicht. Das Land grenzte im Osten unmittelbar an
die künftige Sowjetunion, zu deren Gründungsmitgliedern die Sowjetrepubliken
Ukraine und Belorussland gehörten. Über die komplizierte und schwer zu beherrschende
Nationalitätenfrage war das neue Polen auf eine nicht gewollte Weise mit dem
territorial übermächtigen Nachbarn verbunden.
Ein besonders problematisches
Kapitel stellt die Einverleibung von Wilno, litauisch Vilnius, in den
polnischen Staatskörper dar. Im Verhältnis zu Litauen nämlich konnte Polen sich
eine Politik der Stärke erlauben. Aus der Tatsache heraus, dass Wilno eine
polnische Bevölkerungsmehrheit hatte, wurde der Anspruch auf Zugehörigkeit zum
Mutterland erhoben. Eine schwere Hypothek indes für den Stolz der Litauer, die
ohne die historische Hauptstadt sich in der politischen Unabhängigkeit
einrichten mussten. Viele Jahre später hat der selbst aus Litauen stammende
polnische Literaturnobelpreisträger Czes³aw Mi³osz die Haltung Polens in der Frage
der litauischen Hauptstadt als einen der größten Fehler in der Außenpolitik
Polens zwischen den beiden Weltkriegen bezeichnet. Denn in den Augen der
meisten damaligen polnischen Politiker hatte wenigstens diese für die
Erinnerung an die einstige Größe der Rzeczpospolita so wichtige Stadt in den Bestand
des neuen Staates aufzugehen. Entscheidend war hier die Befürchtung, dass
ansonsten Russland sich der Stadt und damit Litauens bemächtige. Die Frage der
Unabhängigkeit Litauens nahm hier eine untergeordnete Rolle ein. Der junge
polnische Staat spielte in dieser Frage das Recht des Stärkeren aus und begab
sich damit freiwillig auf ein Feld, auf dem später alles verloren wurde. Die
instrumentale Nutzung der Minderheitenfrage war zudem Wasser auf die Mühlen der
dem unabhängigen Polen nicht wohlgesonnenen Propaganda aus Deutschland und aus
der Sowjetunion.
Ein einziger bürgerlicher
politischer Kopf – Roman Dmowski - versuchte seine Landsleute eindringlich zu
warnen: Das übertriebene politische Engagement im Osten führe zur Schwächung
der Position gegenüber dem Westen, also gegenüber Deutschland. Wenn Polen
Gefahr drohe, dann aus dieser Richtung. Die Phobie gegenüber dem russischen
Osten sei durch nichts begründet und komme Polen teuer zu stehen. Denn in
Zeiten der Herrschaft von starken Nationalstaaten müsse auch Polen Abschied
nehmen vom Gedanken eines Vielvölkerstaates. Der beste Schutz gegenüber dem
starken Deutschland wäre ein Polen mit weitgehend geschlossenem
Siedlungsgebiet. Dmowski konnte sich in der auch innenpolitisch umkämpften Zeit
zwischen 1918 und 1921 nicht durchsetzen. Das Zepter führte Józef Piłsudski,
den missionarischer Eifer in die Räume des europäischen Osten zog. Der ihm
zugeschriebene Anteil am Sieg der polnischen Truppen über die im Sommer 1920
bereits an der Weichsel stehende Rote Armee – das „Wunder an der Weichsel“ –
markierte die Richtung: in den Osten, in die Gebiete der einstigen Rzeczpospolita,
also in die Vergangenheit. Der 1921 im Vertrag von Riga abgesegnete
Grenzverlauf sicherte Polen tatsächlich große Territorien hinter dem Bug und konfrontierte
das Land sogleich mit handfesten Minderheitenproblemen, die es in der gesamten
Zeit bis 1939 nicht in den Griff bekam. Die Warnung Dmowskis erfüllte sich,
denn das Engagement im Osten, der Glaube, dort zivilisatorische Mission zu erfüllen
(Bollwerk des Christentums, Bollwerk des Abendlandes, Bollwerk der westlichen
Zivilisation), rächten sich in der zunehmenden Schwäche gegenüber dem nach
Revision der Versailler Verträge lechzenden westlichen Nachbarn. Zur Tragik des
politischen Kopfes Dmowski freilich gehört, dass er als einer der besten
„Realpolitiker“ zugleich sich unentrinnbar in die Fallstricke des
zeitgenössischen Antisemitismus verfing, der auch im damaligen Polen hoch im
Schwange stand.
*
Das für Polen schreckliche Ende
ist bekannt: Nur zwei Wochen nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen
bemächtigte sich die Sowjetunion der polnischen Gebiete östlich des Bugs und
revidierte so kurzerhand das Rigaer Vertragswerk. Im Einvernehmen mit
Deutschland wurde das Ende von „Versailles-Polen“ verkündet – für viele Polen
bis heute die vierte Teilung. Über den heldenhaften Widerstand der polnischen
Bevölkerung zu berichten, hieße hier Eulen nach Athen tragen. Doch zunehmend
gelangen Differenzierungen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, die
unmittelbar aus der Zeit bis 1939 herrühren. Etwa wenn im heutigen
polnisch-ukrainischen Verhältnis Geschehnisse aus dem Jahre 1943 eine große
Rolle spielen, bei denen Zehntausende Polen in Wolynien durch die Hand ukrainischer
Nationalisten ermordet wurden. Wenn man so will, ein lokaler Bürgerkrieg
grausamster Art im Schatten des großen Krieges. Die Geschehnisse, die auf Gebieten
stattfanden, die bis 1939 zu Polen gehörten, gemahnen tatsächlich in mancher
Hinsicht an die Tragödie Jugoslawiens. Dazu gehört auch, dass in diesem Fall
als Lösung auf eine weitgehende Entflechtung der verschiedenen
Bevölkerungsgruppen orientiert wurde. Dabei spielten zwei Faktoren eine
entscheidende Rolle.
Bedingt durch den Siegeszug der
Roten Armee und durch die herausragende Bedeutung der Ostfront für den Kampf
der Alliierten setzten sich in den Jahren 1944 und 1945 allmählich sämtliche
sowjetische Vorstellungen über die Neuordnung des Raumes jenseits von Weichsel
und Bug durch. In der Konsequenz aber mussten die Alliierten Stellung beziehen
zu der 1939 bei Kriegsausbruch aufgeworfenen Frage über die künftige
Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen. Für Stalin war die Sache schnell
klar. Die westlichen Mächte hatten Schwierigkeiten anderer Art: Ihr Verbündeter
– die polnische Exilregierung in London und der mit ihr verbundene Widerstand –
sträubten sich bis zuletzt gegen eine Stalinsche Lösung. Sie wollten begrenzte
territoriale Zugewinne im Norden (Ostpreußen) und im Westen (Oppelner Gebiet,
verbreiteter Zugang zur Ostsee, Danzig) bei möglicher Beibehaltung der im
September 1939 bestehenden Ostgrenze. Selbst Wilno (Vilnius) sollte polnisch
bleiben. Große Teile des Widerstands wurden diesem Ziel untergeordnet.
Aufstände in Wilno und Warschau sollten vor Eintreffen der Roten Armee vollendete
Tatsachen schaffen. In Wilno scheiterten die Aufstandsplanungen, was die Stadt
rettete, in Warschau indes kam es im August 1944 zum größten Aufstand einer
Stadtbevölkerung gegen die deutschen Okkupanten. Im Ergebnis verloren über
180.000 Warschau
er ihr Leben. Nach der Ausrottung
der Warschauer Juden der zweite große Aderlass der Stadt. Im heldenhaften Kampf
gegen die deutschen Okkupanten vor Ort opferten sich die zumeist jungen
Menschen todesmutig einem strategischen Ziel, welches bereits in diesen
Sommertagen seinen Sinn verloren hatte. Nach der vollständigen Niederschlagung
des Aufstands durch die deutsche Wehrmacht war der Weg frei für eine
einvernehmliche Lösung zwischen den Siegermächten der Antihitlerkoalition
bezüglich aller territorialer Fragen im Raum östlich von Oder und Lausitzer
Neiße. Die polnische Exilregierung hatte auf zutiefst tragische Weise ihre
letzte vermeintliche Trumpfkarte verloren. Polens Ostgrenze wurde im
Einverständnis aller Antihitlermächte endgültig 200 bis 300 Kilometer nach
Westen verschoben.
Im Unterschied zur Umsiedlung der
deutschen Bevölkerung aus den fraglichen Gebieten geschah die Umsiedlung der
polnischen Bevölkerung aus jenen Gebieten, die nunmehr sowjetisch wurden, auf
freiwilliger Basis. Es galt zu wählen: Entweder Bürger der Sowjetunion
werden/bleiben und dableiben, oder Bürger Polens bleiben und nach Westen gehen.
Die überwiegende Mehrzahl der Polen nahm das bittere Los der Umsiedlung auf
sich, eine kleine Minderheit - insbesondere in Litauen – blieb. Litauer,
Belorussen und Ukrainer, die bis 1939 Bürger Polens waren, wurden/blieben
Sowjetbürger. Und so kam es, dass Breslau als Wroc³aw 1945 zu einer eigentlich
ostpolnischen Stadt wurde, denn hier vor allem siedelten sich jene Menschen an,
die in Lwów (jetzt Ukraine) bisher ihr Zuhause hatten. Bis heute halten die
Bürger Wroc³aws die Erinnerung an diese Herkunft in hohen Ehren. Ein Grund, aus
der Sicht deutscher „Landsmannschaften“ hier Gleiches zu vermuten? Eingedenk
der dramatischen und überaus komplizierten geschichtlichen Hintergründe – die
hier nur in sehr verkürzter Form angerissen werden konnten – verbietet sich ein
Ja. Da wird Unvergleichliches aus den Zusammenhängen herausgerissen und
unvermittelt nebeneinandergestellt. In der Kunst leistet ein solches Verfahren
gute Dienste, in der politischen Debatte jedoch wird damit Unheil angerichtet.
Hinter der Fassade von Empathie für „fremde“ Opfer wird gezündelt. Würde ein
Kind die Tür der Geschichte dieser Zeit einen Spaltbreit aufmachen, es bekäme
Entsetzliches zu sehen und schlüge die Tür sogleich zu. Nichts anderes haben
die europäischen Völker 1945 getan – politisch! Es war nicht der schlechteste
Weg. Er gab den Deutschen die Chance, sich wiederzufinden. Er räumte den Polen
die Möglichkeit ein, in sicheren und unantastbaren Grenzen mit den deutschen
Nachbarn zusammenzuleben. Das wichtigste Faustpfand für Europas Zukunft.
Polens offizielle Haltung ist
dementsprechend eindeutig und im Lande wenig umstritten. Jenseits aller
möglichen Diskussionen um gewesene Grenzverläufe ist erstens auszugehen von der
bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945. Später Bedingungen
gegenüber den Nachbarn nachzuschieben widerspricht dem Attribut der Kapitulation.
Zweitens wurde die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten
östlich von Oder und Neiße erst nach den Beschlüssen von Potsdam durch
polnische Behörden organisiert. Daher könne nicht von Vertreibung geredet
werden. Dieses Wort könne nicht auf die durch Beschlüsse der Siegermächte des
Zweiten Weltkriegs zurückgehenden Maßnahmen angewendet werden. Drittens werde
nach den Bürgerkriegsereignissen in Jugoslawien verstärkt das Argument der
Menschenrechte gebraucht. Die in Frage stehenden Regelungen waren ein Kind des
Zweiten Weltkriegs und atmeten den Geist der damaligen Zeit. Da auch die
Menschenrechte kein statisches, sondern ein sich ständig weiterentwickelndes
System von Rechtsgrundsätzen sind, könne der heute erreichte (zeitgemäßere)
Stand nicht ohne weiteres rückwirkend auf die damalige Situation bezogen
werden.
Ein interessanter Vorschlag, der in im Zusammenhang mit den Plänen für ein (Berliner) „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Polen diskutiert wurde, besteht darin, in £ódŸ ein europäisches Zentrum für Versöhnung, Zusammenarbeit und Erinnerung zu errichten. In der Stadt überlebten von den einst 250.000 Menschen jüdischer Herkunft die allerwenigsten die Schrecken der Okkupation. Damit wurde eine der drei großen Kulturen dieser außergewöhnlichen Stadt nahezu ausgelöscht. Die anderen beiden haben trotz unterschiedlichster Verluste überlebt – die polnische in Łódź, die deutsche – soweit sie nicht in Stein gehauen ist - jenseits von Oder und Neiße.
BESCHLUSS
des Sejm der Polnischen Republik vom 10. September 2004
bezüglich der Rechte Polens auf deutschen Kriegsreparationen sowie der in
Deutschland aufgestellten rechtswidrigen Ansprüche gegen Polen und polnische
Bürger
Der Sejm der Polnischen Republik,
sich seiner Rolle bezüglich der historischen Wahrheit und der grundlegenden
Gerechtigkeit in den polnisch-deutschen Beziehungen bewusst:
1. stellt fest, dass Polen bisher
weder einen angemessenen finanziellen Ausgleich noch angemessene
Kriegsreparationen für die umfassenden Zerstörungen sowie die materiellen und
immateriellen Verluste, die durch deutsche Aggression, Besetzung, Völkermord
und den Verlust der Unabhängigkeit herbeigeführt wurden, erhalten hat; der Sejm
der Polnischen Republik fordert die Regierung der Polnischen Republik auf,
entsprechend angemessene Maßnahmen bezüglich dieser Angelegenheiten gegenüber
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zu ergreifen:
2. erklärt, dass Polen keinerlei
finanzielle Verpflichtungen gegenüber den Bürgern der Bundesrepublik
Deutschland hat, die sich aus dem II. Weltkrieg und seinen Folgen ergeben;
3. fordert die Regierung auf,
schnellstmöglich der Öffentlichkeit eine Schätzung der materiellen und
immateriellen Verluste vorzulegen, die dem Polnischen Staat und seinen Bürgern
als Ergebnis des II. Weltkrieges entstanden sind;
4. appelliert an die Machtorgane
der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen, dass deutsche Forderungen auf
Entschädigung gegenüber Polen jeglicher Berechtigung und Rechtsgrundlage entbehren
sowie dem Einhalt zu gebieten, dass sich deutsche Bürger auf gerichtlichem oder
administrativem Wege gegen Polen wenden; der Sejm der Polnischen Republik
fordert die Regierung der Polnischen Republik auf, entschiedene Schritte
einzuleiten, die zu einer endgültigen Anerkennung von Seiten der Bundesrepublik
Deutschland führen, die Verantwortung für eventuelle
Entschädigungsverpflichtungen für die Schäden zu übernehmen, die deutsche Bürger
infolge der Umsiedlungen zu tragen hatten sowie für das verlorene Eigentum der
Bevölkerung nach dem II. Weltkrieg, wie es sich aus den Beschlüssen des
Potsdamer Abkommens sowie seiner späteren Repatriierungsprozessen ergab.
des Sejm der
Republik Polen vom 27. November 2003 in der Angelegenheit der Errichtung eines
Erinnerungszentrums der Völker Europas unter der Schirmherrschaft des Europarates
Jedes Volk hat ein Recht auf sein
kollektives Gedächtnis. Die Erinnerung kann man jedoch nicht selektiv
betrachten. Die schwierigen Wahrheiten kann man nicht umgehen, auch nicht die
oft unbequemen Wahrheiten vom Standpunkt der Identität eines Volkes aus.
Insbesondere ist es nicht möglich, sich vom historischen Hintergrund der
nationalen Erfahrungen zu lösen und die Folgen von ihren Ursachen getrennt
darzustellen.
In diese Richtung geht leider ein
jüngst in Deutschland diskutiertes Projekt der Errichtung eines Zentrums gegen
Vertreibung in Berlin. Es soll die Leiden der deutschen Bevölkerung
dokumentieren, die im Ergebnis des 2.Weltkrieges aus den Ländern Mittel-, Ost-
und Südeuropas umgesiedelt wurden.
Der Sejm der Republik Polen
erinnert daran, dass die Entscheidung über die Umsiedlung während der Potsdamer
Konferenz durch die Führung der USA, Großbritanniens sowie der Sowjetunion
getroffen wurde. Sie war eine der Folgen eines grausamen Krieges, der durch die
Regierung des III. Reiches entfesselt wurde und dessen Ziel die politische
Neuordnung Europas war.
Der Sejm der Republik Polen
erinnert an die Leiden der umgesiedelten Menschen. Gleichzeitig weist er darauf
hin, dass die Umgehung obengenannter Fakten zu einer Verfälschung der
historischen Wahrheit führt. Darüber hinaus begünstigt sie die Relativierung
von Einschätzungen, in der die legale Umsiedlung der deutschen Bevölkerung mit
den Verbrechen, die durch das faschistische Deutschland und die kommunistische
Sowjetunion begangen wurden, gleichgestellt werden.
Der Sejm der Republik Polen
erklärt, dass die Institution, die an die tragischen Erfahrungen der Europäer
im XX. Jahrhundert erinnert, internationalen Charakter haben sollte. Sie sollte
erinnern an die Gesamtheit der verbrecherischen Tätigkeit beider totalitärer
Systeme, des Hitler- und des kommunistischen Systems. Sie sollte sowohl die
Leiden der Völker als auch den gesellschaftlichen Widerstand gegen den
Totalitarismus erforschen und dokumentieren, darunter die Widerstandsbewegung
und die demokratische Opposition. Zu dieser empfehlenswerten Initiative äußerte
das Institut für Nationale Erinnerung in Warschau öffentlich Unterstützung.
Der Sejm der Republik Polen macht
darauf aufmerksam, dass das Erinnerungszentrum der Völker Europas unter der
Schirmherrschaft des Europarates stehen sollte. Das bietet die beste Garantie
für seinen internationalen Charakter und die Objektivität seiner zu leistenden
Arbeit.
Deshalb richtet sich der Sejm der
Republik Polen auch um Unterstützung dieser Initiative an die Parlamente der
Mitgliedsländer des Europarates, an das Europaparlament mit der Unterbreitung
einer entsprechenden Empfehlung an den Europäischen Ministerrat.
Möge die Gründung eines
Erinnerungszentrums der Völker Europas der Erinnerung an alle Opfer
verbrecherischer Regime des XX. Jahrhunderts dienen und dazu beitragen, die Verpflichtung
der Erinnerung, die über allen Völkern Europas ruht, zu erfüllen.
Ergebnis der Abstimmung: 310
dafür, 28 dagegen, 53 Enthaltungen
Übersetzung: Daniela Fuchs, Berlin