War die Wirklichkeit wirklich eine Andere?

Zum Polnischunterricht an DDR-Schulen

Von Heinz Huth

 

Bevor ich die Reise zu einem Schachturnier in Polen antrat, wollte ich mir einige polnische Redewendungen aneignen. So besuchte ich das Polnische Institut nahe dem Berliner Alexanderplatz. Hier entdeckte ich auch die Zeitschrift „Polen und wir“, die mir bisher unbekannt war. Leider, wie ich feststellen konnte. Die Beiträge der Nr. 2 zum Krieg gegen den Irak beeindruckten mich sehr. Wort und Gestaltung waren sehr informativ und waren mir aus dem Herzen gesprochen. Doch dann geriet ich ins Kopfschütteln. Der Grund war der Beitrag „Zur Geschichte des Polnisch-Unterrichts im Königreich Preußen und in der DDR“ (Nr. 1 und 2).

 

Der Autor war 40 Jahre lang Polnischlehrer in Ostberlin und hat deshalb sicherlich auch Verdienstvolles für die deutsch-polnische Verständigung getan. Er verspricht, auf der Grundlage der in seiner Lehrertätigkeit gesammeltem Materialien und Erfahrungen einen „Abriss über den Polnischunterricht in der DDR“ zu geben. Er schreibt: „Die DDR-Führung wurde nicht müde, die 1949 gegründete DDR als den wahren ‚Friedensstaat’ zu preisen. Es war viel von ‚Friedenskampf’ und ‚Völkerfreundschaft’ die Rede. Die Wirklichkeit war eine andere. Der Kalte Krieg war in vollem Gange.“

„Die Wirklichkeit war eine andere“ - das ist die Grundaussage des versuchten Abrisses und seines versuchten Verrisses. Um diese Grundaussage zu stützen, führt der Autor alle möglichen und unmöglichen Argumente ins Feld. Was aber dieser Grundaussage widerspricht, wird als Propaganda abgetan oder kurzerhand weggelassen.

Ich habe 1951 im Bezirk Prenzlauer Berg (Ostberlin) mein Abitur gemacht. Meine Frau war hier in einer Grundschule Mitglied des Elternbeirats und hat als leitende Schwester auf der Lehrstation eines Krankenhauses viel mit Mädchen zu tun gehabt. Unsere Tochter weilte im Rahmen des Schüleraustausches mit einem Warschauer Gymnasiums 1975 zehn Tage in Polen, legte hier im Prenzlauer Berg ihr Abitur ab und wurde später Lehrerin. Eine Enkeltochter begann im vorigen Jahr das Studium an der Berliner Humboldt-Universität. Als Journalist besuchte ich häufig Schulen. Kurzum: Wir haben das Schulwesen in der DDR kennen gelernt, seine positiven und weniger guten Seiten. Auf die Völkerfreundschaft bezogen entspricht dieses “Die Wirklichkeit war eine andere“ nicht der Wirklichkeit, wie wir sie kennen lernten.

Um nur eine Richtung der Beweisführung herauszugreifen. Vom Autor des Artikels erfahren wir: Es mussten Aufsätze geschrieben werden; es waren Freund-schaftsecken einzurichten; jede Schule hatte eine Elternversammlung durchzuführen. Vielleicht mussten die Kinder auch Vokabeln lernen?! Vielleicht musste der verdienstvolle Polnischlehrer auch manche Auszeichnung annehmen und musste sich sogar als „Aktivist der sozialistischen Arbeit“ feiern lassen?!

Im Artikel lesen wir, es waren Aufsatzwettbewerbe mit „vorgegebener, eindeutig propagandistischer Thematik“. Alle genannten Formen, einschließlich der Freundschaftsecken, der empfohlenen Bücher und Filme seien „massive Staatspropaganda“ gewesen. Was waren denn die Themen der Aufsätze zum Beispiel? Was waren die Aussagen der Filme und Bücher? Auf den Inhalt kommt es doch wohl an. Doch hierzu erfahren wir nichts Konkretes.

Aus den Erfahrungen unserer Familie, die sich mit Sicherheit nicht von denen an der Lichtenberger Schule unterscheiden, seien hier nur einige angeführt: An den DDR-Schulen wurde mit Atlanten gearbeitet, in denen die Oder-Neiße-Grenze als Staatsgrenze eingezeichnet war; alle Kinder erfuhren von Auschwitz; die Schuld des deutschen Militarismus am Überfall auf Polen, an der Ausrottung von Teilen der polnischen Bevölkerung und auch an der Umsiedlung von vielen Deutschen war oft Thema im Unterricht und außerhalb des Unterrichts; dazu gehörte auch, dass für die Kinder Kopernikus ein Pole war; das Buch von Sukko Sokumlinski „Mein Herz gehört den Kindern“ ging auch uns ans Herz und war uns nicht zuletzt ein Beispiel für Heldenmut; das polnische Kuckuckslied, von polnischen Volksensembles in die DDR gebracht und von DDR-Chören ins eigene Repertoire aufgenommen, hörten wir gern...

Zum Schluss noch ein Wort der Anerkennung für Mitglieder ihrer Gesellschaft. Die Straße, in der ich wohne, heißt „Kniprodestrasse“. (Winrich von Kniprode war der recht kriegerische Hochmeister des Deutschen Ordens im 14. Jahrhundert.) Von meinem Wohnzimmer aus blicke ich auf ein Ehrenmal, dass 1972 von den Regierungen Polens und der DDR errichtet wurde. Das Denkmal ist den Helden gewidmet, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben lassen mussten – den polnischen Soldaten und den Soldaten der Alliierten, den Zwangsarbeitern, Häftlingen und Kriegsgefangenen, allen Antifaschisten des deutschen Wider-standes.

Zu DDR-Zeiten wurden hier an jedem 8. Mai, dem Tag der Befreiung, von offiziellen Delegationen und einzelnen Berlinern Blumen und Kränze niedergelegt. Auch in Ehrung der zahlreichen Soldaten und Offiziere, die als Angehörige der 2. Polnischen Armee an der Seite der Sowjetarmee ihr Leben bei der Befreiung Berlins vom Faschismus lassen mussten.

Vor der Einweihung im Jahre 1972 erhielten etwa 15 Straßen in der näheren Umgebung die Namen ermordeter antifaschistischer Widerstandskämpfer. Die Stra-ßen waren einst nach Städten im früheren deutschen Osten benannt. So wurde aus meiner Geburtsstraße Lippehner Straße die Käthe-Niederkirchner-Straße, so erhielten wir auch eine Bonhoefferstraße; meine Kniprodestraße wurde zur Arthur-Becker-Straße. Arthur Becker war ein junger kommunistischer Reichstagsabgeordneter, der dem Hilferuf der demokratisch gewählten spanischen Volksfrontregierung folgte, in Spanien gegen die von Hitler und Mussolini unterstützten spanischen Faschisten kämpfte und dabei sein Leben ließ. Nach der Wende setzte der CDU dominierte Berliner Senat entgegen dem Wunsch der hier Wohnenden die Rückbenennung durch. Im Sinne der deutsch-polnischen Verständigung konnte und kann ich das nicht finden.

Zum 8. Mai werden auch heute noch an dem Denkmal Blumen niedergelegt. Weniger zwar, aber „besser als nischt“, sagt der Berliner. Vor drei Jahren traf ich dort eine Gruppe von Fahrradtouristen, die die Deutsch-Polnische Gesellschaft repräsentierten. Ich war jetzt zwei Jahre nicht am 8. Mai dabei. Aber vielleicht treffen wir uns im kommenden Jahr dort.                                                                                                                                                                                                m