In POLEN und wir 2/1999 veröffentlichten wir einen Aufsatz zu Constantin Frantz von Dr. Grzegorz Kucharczyk aus Poznań, der uns mit diesem Politiker des vorige Jahrhunderts bekannt machte und diesen als einen Politiker vorstellte, der sich gegen die damals unter Bismarck herrschende Polenpolitik aussprach. Dr. Helmut Meier hat dazu einige kritische Anmerkungen zu machen.
Zur halbherzigen
Polenfreundschaft von Constantin Frantz
In einer 1846 an den preußischen Minister Eichhorn gerichteten Denkschrift kann man viele schöne Sätze lesen, in denen Hochachtung vor polnischer Wissenschaft und Kultur bekundet werden. Eine tiefe Verbeugung vollführt der Autor vor dem polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz. Es heißt da: "Diese Männer (die polnischen Literaturwissenschaftler und Historiker - H.M.) aber überragt noch, nicht zwar durch positive Gelehrsamkeit, aber durch die Tiefe des Geistes und durch den Umfang der Idee, der polnische Dichter Mickiewicz. Er hat eine vollständige Weltanschauung dargelegt in seinen Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände." Darauf folgt die Feststellung: "Ein Volk, das in seinem tiefsten Elend einen solchen Mann hervor bringen konnte (wie Mickiewicz - H.M.), hat noch eine Zukunft und ist noch nicht verloren."
Wenn man diese Zeilen liest, so fühlt man sich zu der Schlussfolgerung gedrängt, dem Autor zu bescheinigen, dass er in die Reihe der Freunde des polnischen Volkes unter den deutschen Publizisten gehört.
Das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen war in der Geschichte vielen Belastungen ausgesetzt, die überwiegend in der gen Osten gerichteten Expansions-politik der deutschen Herrenschichten ihre Ursache hatten. So mangelte es nicht an Bestrebungen, sich Polen ganz oder zum Teil anzueignen. Entsprechend feindselig und abwertend war das Bild, das über Polen in der deutschen Gesellschaft verbreitet wurde. Insofern verdienen Auffassungen, die sich für eine positive Einstellung zu Polen aussprachen, unbe-dingt Aufmerksamkeit.
Allerdings muss man sich dabei stets fragen, wer derjenige war, der sich in einer solchen Weise aussprach, und vor allem, welche Motive ihn dabei leiteten. Dieser Verfahrensweise wollen wir auch den Verfasser der zitierten Denkschrift unterwerfen.
Verfasser der Denkschrift, die übrigens den Titel trug "Über die geistige Pflege der polnischen Nationalität vom deutsch-preußischen Standpunkt", war ein damals noch ziemlich unbekannter politischer Publizist Namens Constantin Frantz (1817-1891). Er hatte im Auftrage der preußischen Regierung eine Reise durch Polen unternommen und legte seinem Dienstherren nicht nur seine Eindrücke, sondern auch seine Vorstellungen dar, welche Politik Preußen gegenüber seinen polnischen Landesteilen verfolgen sollte.
Um Constantin Frantz' Bedeutung kurz zu umreißen, sei gesagt, dass er sich im Verlaufe seines Lebens zu einem der profiliertesten konservativen politischen Publizisten seiner Zeit entwickelte. An seinen Namen knüpft sich die Herausbildung der föderalistischen Mitteleuropa-Idee in Deutschland, der unversöhnliche Gegnerschaft gegenüber der National-staatsidee zugrunde lag. Seine Haltung machte ihn zu einem der schärfsten konservativen Kritiker Bismarcks und seiner Politik.
Auf den ersten Blick spricht manches dafür, in seinem zu Polen geäußerten Standpunkt tatsächlich das Bemühen zu sehen, an die Stelle einer Politik nationa-ler Selbstüberhebung und territorialer Okkupation friedliche und freundschaftli-che Beziehungen zwischen dem deutschen und polnischen Volk zu setzen. Immerhin unterschied sich seine Einstellung deutlich von der in Regierungskreisen vorherrschenden. Die Abweichung kam u.a. in seiner kategorische Ablehnung der damaligen preußischen Praxis einer Germanisierung der polnischen Landesteile zum Ausdruck, die er als "vorweg immoralisch und heidnisch", sowie "am Ende nicht einmal klug" verurteilte. Er plädierte hingegen dafür, den Polen in Preußen die Pflege ihrer Sprache und Kultur zu gewähren. Indem er Preußen als einen Staat definiert, für den die Verbindung von Deutschtum und Slawentum typisch sei, weil in ihm sowohl Deutsche als auch Polen siedeln, vertritt er den Standpunkt: "Preußen konnten sie alle beide sein (nämlich Deutsche und auch Polen - H.M); denn dies ist kein nationaler, sondern ein politischer Begriff, der den Nationalitäten einen neutralen Boden darbietet. Die Staatsweisheit gebot, diese Lage der Dinge aufrecht zu erhalten, in der inneren Lage beiden Nationalitäten gleiche Rechte zu sichern, die Frage aber über den Anschluss an Deutschland gar nicht aufzuwerfen, vielmehr ausdrücklich zu erklären, dass daran nicht zu denken sei." . Und so wandte er sich strikt gegen die damals in der preußischen Politik Platz greifende Position von einer angeblich "deutschen Mission" Preußens.
Das Gesagte deutet darauf hin, dass sich Constantin Frantz' Haltung zu Polen in einen größeren Zusammenhang einordnet. Man kann sie nur vollständig bewerten, wenn man sein politisches Gesamtkonzept berücksichtigt. Das ist umso notwendiger, als seinen Darlegungen zur preußischen Polenpolitik tatsächlich zentrale Bedeutung für die Herausbildung seiner politischen Konzeption zukommt. Sie stellen gewissermaßen die Grundsteinlegung für das Gebäude seiner politischen Ideen dar, das er während seiner langen Schriftstellerlaufbahn errichtete.
Mit seinen Polendenkschriften - es sind insgesamt drei - begründet er seine Auffassung von der vollständigen Ungeeignetheit der Nationalstaatsidee für die Lösung der politischen Probleme im mitteleuropäischen Raum und entwickelt sein Konzept der Schaffung einer mittel-europäischen Föderation. Dahinter steht die begründete Befürchtung, dass die Konstituierung eines deutschen Nationalstaates die unter deutscher Vorherrschaft befindlichen nichtdeutschen Nationalitäten veranlassen könnte, ihrerseits eine eigenständige nationalstaatliche Existenz zu verlangen, was nicht nur mit Territorial-, sondern vor allem mit einem empfindlichen Machtverlust für die Deutschen verbunden sein würde. Denn daran lässt auch Constantin Frantz keinen Zweifel, die Dominanz des deutschen Einflusses in Mitteleuropa will er erhalten sehen, dazu erfindet er eigens einen "deutschen Weltberuf", der den Deutschen gewissermaßen das legitime Anrecht zuspricht, die Führung in Mitteleuropa auszuüben. In diesem Sinne schreibt er: "Wir werden demnach jetzt zeigen, wie Deutschland seinen Beruf nur dadurch erfüllen kann, dass es sich selbst zum Regulator des europäischen Gleichgewichts macht, was aber nur dann möglich ist, wenn es sich zur vorherrschenden Macht des Kontinents erhebt. Diese Stellung zu erringen, und zu diesem Ende keine Anstrengungen noch Opfer zu scheuen, ist seine heilige Pflicht, nicht bloß um seiner selbst Willen, sondern noch viel mehr um Europas Willen, weil es das einzige Mittel ist, um das europäische Staatensystem vor dem völligen Umsturz zu retten und die europäische Menschheit der rohen Gewalt wie der Korruption zu entreißen, welche von zwei Seiten hereinbrechen." Diese Äußerung lässt erkennen, dass ein deutsch geführter mitteleuropäischer Bund eindeutig gegen Frankreich und Russland gerichtet ist. Damit wird deutlich, dass Frantz' Föderalismus keine prinzipielle Abkehr von nationalem Hegemonismus darstellt, wie er auch nicht ein klares Bekenntnis zu gleichberechtigter und freiwilliger Partnerschaft ist. Noch offensichtlicher wird das, wenn man berücksichtigt, welche Gebiete er seinem "Mitteleuropa" einzuverleiben gedenkt, und welche Mittel er dafür einzusetzen bereit ist. "Mitteleuropa" fasst er außerordentlich weiträumig auf. Keineswegs beschränkt sich seine Vorstellung nur auf Preußen, Österreich-Ungarn und die deutschen Klein- und Mittelstaaten. Für ihn ist es eine ausgemachte Sache, dass auch Polen, das Baltikum, der ganze Balkan, aber auch die Schweiz, Belgien, die Niederlande und Luxemburg, sowie die skandinavischen Staaten einverleibt werden sollen. Selbst einen Anschluss Großbritanniens erwägt er. Wenn die Staaten, die er als Glieder der von ihm geplanten mitteleuropäischen Föderation ins Auge gefasst hat, zu einem Anschluss nicht bereit sein sollten, dann rät Frantz ungeniert zur Anwendung der nur allzu bekannten Methoden preußisch-deutscher Machtpolitik. "Wollen sich die dortigen Völker unter eine solche Curatel nicht fügen, so ist eben hier der Säbel an seiner Stelle, weil andere Mittel nicht ausschlagen würden."
Damit steht fest, dass der Unterschied zur bislang "üblichen" Politik der deutschen herrschenden Klassen nur gradueller Natur ist. Den Unterschied könnte man auf die Formel bringen, anderen Völkern die Unterordnung unter deutsche Vorherrschaft dadurch schmackhaft und annehmbar zu machen, das sie nicht einem zentralistischen deutschen Staat angegliedert werden sollen, sondern einem mitteleuropäischen Bund, der den Prägestempel deutscher Hegemonie nicht offen auf der Stirne trägt.
Seine wohlwollenden Bemerkungen über die polnische Kultur und Eigenart geraten noch mehr ins Zwielicht, als er zudem ein radikaler Gegner einer polnischen Eigenstaatlichkeit war. Er, der sehr wohl um die geistige Leistungskraft des polnischen Volkes und seine unbestrittene nationale Identität weiß, sprach ihm dennoch die "plastische Kraft" für eine Staatsbildung ab. Die "Errichtung eines neuen Polenreiches" hält er "weder (für) ausführbar noch erwünschenswert". In seinem mitteleuropäischen Föderalkonzept ist kein Platz für einen souveränen polnischen Staat als gleichberechtigtes Mitglied. Polen soll allenfalls analog zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie im Rahmen einer preußisch-polnischen Union figurieren. Er schreibt: "Und daraus folgt es, dass ein neues polnisches Staatswesen sich nur entwickeln kann durch Anlehnung an eine schon altbegründete und mächtige Staatsgewalt und somit ein für sich bestehendes Polenreich zur Unmöglichkeit wird." Hinzu kommt ein weiteres Moment, das seine polnischen Sympathiebezeugungen fragwürdig werden lässt. Frantz reflektiert auf das geschichtlich belastete Verhältnis zwischen Polen und Russland. Er möchte die polnischen nationalen Bestrebungen für seine russlandfeindliche Ausrichtung des mitteleuropäischen Bundes instrumentalisieren. Das in den preußischen Staatsverband integrierte Polen soll gewissermaßen die Speerspitze gegen Russland bilden. Ihm weist er die Funktion eines "letzte(n) Damm(es) des gesitteten Europas gegen das Überfluten des Asiatentums" zu.
Das Beispiel des Constantin Frantz zeigt, dass Komplimente an das polnische Volk, seine kulturellen Leistungen und seine ethnische Eigenart noch kein ausreichen-der Beleg dafür sind, dass sich dahinter Achtung der nationalen Interessen und die Bereitschaft zu gleichberechtigtem Beziehungen verbirgt. Der Verzicht auf Germanisierungsabsichten heißt noch nicht Verzicht auf Unterwerfung und Verweigerung der nationalen Selbständigkeit. Das aber sind unverzichtbare Kriterien dafür, dass Zusammenarbeit auf wahrhaft freundschaftlicher Grundlage entstehen kann. Zweifellos stellt das Prinzip des Föderalismus ein wichtiges Instrument dar, um internationale und kontinentale Zusammenarbeit zu ermöglichen, aber nur dann, wenn es mit der rückhaltlosen Anerkennung gleicher Rechte für alle Mitglieder und dem Verzicht auf hegemoniale Ambitionen besonders großer und mächtiger Mitglieder verbunden wird. Ansonsten ergibt sich die Gefahr, dass kleine und weniger potente Staaten ihre Mitgliedschaft in supranationalen Organisationen mit neuen Abhängigkeiten bezahlen. Insofern führt uns der Exkurs über die Ansichten von Constantin Frantz aus dem vorigen Jahrhundert in die Gegenwart. Ohne vereinfachte Parallelen zu ziehen drängen sich doch einige Überlegungen hinsichtlich des Prozesses der europäischen Einigung auf. Im Wissen um die Frantzschen Visionen werden Bedeutung und Notwendigkeit der in der Gegenwart allerorten erhobenen Forderung deutlich, die Erweiterung der Europäischen Union mit einer durchgreifenden Demokratisierung zu verbinden. Wenn die Erweiterung der europäischen Union mehr sein soll als bloße territoriale Ausdehnung und Verschiebung der Zollgrenzen, dann bedarf es der Sicherstellung der Mitbestimmung aller Mitgliedstaaten in allen Angelegenheiten ungeachtet ihrer Größe und Wirtschaftskraft. Wie die Konzepte eines Constantin Frantz erkennen lassen, müssen föderale Strukturen und deklarierter Verzicht auf vordergründige nationale Symbolik noch keine ausreichende Grundlagen für gleichberechtigte Partnerschaft sein. Gerade Polen hat alle Veranlassung, in dieser Hinsicht wachsam zu sein.