Eine
europäische Minderheit organisiert sich
Sinti und Roma
in Deutschland
Von Silvio Peritore
Sinti und Roma sind seit 600 Jahren in Deutschland bzw. in Mitteleuropa
beheimatet. In den einzelnen Ländern Europas bilden sie nationale Minderheiten,
seit 1995 auch in der Bundesrepublik. Dieser Status bietet Schutz der
Minderheit sowie Pflege und Erhalt ihrer kulturellen Traditionen, etwa der
Minderheitensprache Romanes. Heute leben in der
Bundesrepublik etwa 70.000 Sinti und Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit; in
Europa sind es etwa 10 Millionen. Dabei bezeichnet „Sinti“ die in West- und
Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der Minderheit und der ebenfalls
authentische Eigenname „Roma“ diejenigen ost- und südosteuropäischer
Herkunft. Doch Sinti und Roma sind nicht nur die größte Minderheit, sondern
nach einer 2005 von der Internationalen Beobachtungsstelle für Rassismus
erstellten Studie auch die am stärksten diskriminierte Gruppe Europas.
Vielerorts werden ihnen selbst
die elementarsten Menschenrechte versagt, welche die Grundlage unserer
europäischen Wertegemeinschaft darstellen. Nicht zuletzt ist der Umgang mit
Minderheiten ein wichtiger Prüfstein für die Stabilität von Demokratien. Daher
wäre dies ein wichtiges Beitrittskriterium der jüngst in die Europäische Union
aufgenommenen Staaten Ost- und Südosteuropas gewesen. Denn vor allem in diesen
Ländern sind Roma massiven rassistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt.
Nach diesen allgemeinen
Vorbemerkungen möchte ich die Entwicklung unserer politischen und
wissenschaftlichen Arbeit und einige Schwerpunkte daraus vorstellen. Im Jahr
1982 wurde der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma als Dachorganisation
mehrerer Sinti- und Roma-Verbände gegründet, dem
heute 16 Mitgliedsvereine angehören. Der Zentralrat ist seitdem die politische
Repräsentanz die Deutschen Sinti und Roma auf der nationalen und auch internationalen
Ebene. Fast vier Jahrzehnte hatte es gedauert, bis eine deutsche Regierung im
Jahr 1982 unter Bundeskanzler Schmidt den nationalsozialistischen Völkermord an
den Sinti und Roma als rassistisch motivierten Genozid politisch anerkannt hat.
Während dieser Zeit wurde die NS-Vernichtungspolitik gegenüber der Minderheit
sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Gedenkstättenarbeit
weitgehend ignoriert oder in Form einer Fußnote behandelt. Hier ein Umdenken zu
bewirken, hat sich schließlich das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher
Sinti und Roma zur vorrangigen Aufgabe gemacht. Mit Unterstützung der
Bundesregierung 1990 in einem Gebäude in der Heidelberger Altstadt
eingerichtet, wurde das Zentrum mit der ersten Dauerausstellung zum
NS-Völkermord an den Sinti und Roma nach mehrjährigen Baumaßnahmen im März 1997
der Öffentlichkeit übergeben. Der damalige deutsche Bundespräsident Prof. Roman
Herzog sagte bei der Eröffnung:
„Der Völkermord an den Sinti und
Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und
mit dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung
durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten
Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise
vom Kleinkind bis zum Greis ermordet.“
Neben der Bekämpfung des
aktuellen Rassismus gegenüber den Sinti und Roma, dem „Antiziganismus“,
stellt die Erinnerungsarbeit einen zentralen Aspekt unserer Tätigkeit dar. Vor
dem Hintergrund der jahrzehntelangen Verdrängung dieses Menschheitsverbrechens
ist es unverzichtbar, im Rahmen dieser Erinnerungsarbeit den genozidalen Charakter der systematischen
NS-Vernichtungspolitik gegenüber unserer Minderheit sichtbar zu machen. Nicht zuletzt
weisen auch heutige Formen der Stigmatisierung und Diffamierung von Sinti und
Roma unübersehbare Parallelen zur NS-Propaganda auf. Daher stellt die
Aufklärung über dieses Menschheitsverbrechen im Rahmen der schulischen und
außerschulischen Bildung und der Gedenkstättenarbeit zugleich einen
wesentlichen Beitrag zum Abbau von Vorurteilen und Klischees dar.
Der Genozid an den Sinti und Roma
Sinti und Roma wurden nach 1933
auf der Grundlage der nationalsozialistischen Rassenideologie und der
„Nürnberger Rassegesetze“ zu „Fremdrassigen“ erklärt. Maßgeblich hierfür waren
die Erlasse des damaligen Reichsinnenministers Frick vom 3. Januar 1936, wonach
Sinti und
Roma wie die Juden in vollem
Umfang unter die Bestimmungen der Nürnberger Rassegesetze fielen sowie der
Runderlass Himmlers vom 8. Dezember 1938, welcher die „Regelung der Zigeunerfrage
aus dem Wesen dieser Rasse heraus“ vorsah und die totale Erfassung der deutschen
Sinti und Roma anordnete. Sinti und Roma wurden wie die Juden einzig auf der
Grundlage der NS-Rassenpolitik systematisch erfasst, entrechtet, ausgegrenzt,
verfolgt, deportiert und ermordet, lediglich aufgrund ihrer biologischen
Existenz. Höhepunkt dieser systematischen Vernichtungspolitik war der Genozid
an den europäischen Sinti und Roma, dem Schätzungen zufolge bis zu einer halben
Million Menschen im gesamten nationalsozialistischen Einflussbereich zum Opfer
fielen. Sinti und Roma wurden in elf von den Nationalsozialisten besetzten
Ländern systematisch aufgespürt und ermordet. Sie wurden Opfer von Vergasungsaktionen,
vornehmlich in Auschwitz, ebenso von Zwangsarbeit und medizinischen Experimenten,
Massenerschießungen und Todesmärschen. Dieses Verbrechen wurde rassenideologisch
vorbereitet, systematisch organisiert und ins Werk gesetzt.
Die Kontinuität von Vertreibungen
und Diskriminierungen lässt sich historisch von der Ankunft in Europa bis in
die Gegenwart belegen. Die verschiedenen Formen früherer staatlicher und
gesellschaftlicher Verfolgung müssen jedoch unbedingt grundlegend vom Charakter
der nationalsozialistischen „Zigeunerpolitik“ unterschieden werden, die in ihrer
Konsequenz einzig die Vernichtung der Sinti und Roma zum Ziel hatte und im
Völkermord ihren Kulminationspunkt fand. Das Spezifische der NS-Verfolgung der
Sinti und Roma bestand darin, dass sie
sich nicht gegen Individuen mit abweichendem oder unerwünschtem Verhalten
richtete, sondern gegen eine genetisch definierte Gruppe als Ganzes.
Die jahrzehntelange Verdrängung
und Leugnung des Genozids an den Sinti und Roma, selbst an den authentischen
Orten der Vernichtung und der Deportationen,
Jahrzehnte lange Leugnung
hing nicht nur mit der mangelnden
Anerkennung durch die Politik zusammen, sondern lag auch am Desinteresse der
Wissenschaft, die sich lange Zeit nicht mit der historischen Aufarbeitung
dieses Verbrechens befasste. Erst die sich in den 70er Jahren des vorigen
Jahrhunderts formierende Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma, aus
der schließlich Zentralrat und Dokumentationszentrum entstanden waren, änderte
daran etwas. Die Kontinuitäten in der Tätergesellschaft, die während der Zeit des
Nationalsozialismus den Genozid an den Sinti und Roma organisiert und ins Werk
gesetzt hatten, waren nach 1945 nicht abgebrochen. Viele Täter waren in allen
Bereichen der Gesellschaft, in Politik, Justiz, Ministerialbürokratie,
Verwaltung, Polizei, in Wirtschaft und Wissenschaft oftmals in herausgehobenen
Positionen tätig. Dies hatte fatale
Auswirkungen auf die innere gesellschaftliche Struktur der Bundesrepublik. Vor
allem richtete sich bis in die 70er Jahre hinein die immer noch weit
verbreitete menschenverachtende NS-Rassenideologie gegen die Sinti und Roma,
die vielfältigen staatlichen Diskriminierungen ausgesetzt waren.
Gegenpol zum Antiziganismus
Mit der Gründung des Zentralrats
wurde ein wesentlicher Gegenpol zum Rassismus und der Ignoranz gegenüber
unserer Minderheit geschaffen. Den Kern des Dokumentations- und Kulturzentrums
Deutscher Sinti und Roma bilden mehrere Referate, deren Arbeitsschwerpunkte im
Folgenden kurz vorgestellt werden:
- Eine zentrale Aufgabe ist es,
die über 600-jährige Geschichte der Minderheit in Deutschland und in Europa zu
dokumentieren, wobei die wissenschaftliche Aufarbeitung des Völkermordes
bislang im Vordergrund steht. Priorität haben Interviews mit Überlebenden des
Holocaust und das Festhalten ihrer Erinnerungen. Neben umfangreichen Archivrecherchen
im In- und Ausland wird die relevante Forschungsliteratur kontinuierlich
gesichtet und ausgewertet. Seit Jahren werden private Zeugnisse wie alte
Familienbilder von Überlebenden und ihren Angehörigen gesammelt. Daraus ist mittlerweile
ein einzigartiges Archiv entstanden.
- Seit seiner Gründung arbeitet
das Dokumentationszentrum eng mit anderen Facheinrichtungen, insbesondere mit
den internationalen Gedenkstätten, zusammen und ist in den Beratungsgremien der
jeweiligen Gedenkstättenstiftungen vertreten. Für zahlreiche externe Ausstellungsprojekte
wurden Fotos, Dokumente und Biografien der Opfer zur Verfügung gestellt.
Vielerorts sind Stätten der historischen Erinnerung entstanden, die der
verfolgten und ermordeten Sinti und Roma gedenken. In Zusammenarbeit mit
anderen nationalen Roma-Organisationen und dem
Staatlichen Museum Auschwitz konnte nach mehrjährigen Vorbereitungen eine
ständige Ausstellung realisiert werden, die den Völkermord an den Sinti und Roma
an diesem zentralen Ort des Verbrechens erstmals ausführlich dokumentiert.
Die Ausstellung ist seit 2.
August 2001 in Block 13 des ehemaligen „Stammlagers“ zu sehen. Zu beiden
Dauerausstellungen bestehen zwei transportable Versionen in deutscher und in englischer
Sprache, die seit Jahren in Deutschland und im Ausland gezeigt werden. Im
Januar 2006 präsentierten wir erstmals im Europäischen Parlament in Straßburg
unsere transportable englischsprachige Ausstellung „The
Holocaust against the Sinti
and Roma and present day Racism in Europe.“ Nach mehreren Stationen in europäischen
Städten wie Budapest, Prag, Kiew und Warschau - bewusst in den
nationalsozialistisch okkupierten Ländern, in denen Sinti und Roma systematisch
verfolgt und ermordet wurden - konnten wir die Ausstellung ab Januar 2007
anlässlich des Holocaust-Gedenkens für mehrere Wochen im Hauptquartier der
Vereinten Nationen in New York zeigen. Neben dem historischen Teil über den
NS-Völkermord wird in einem separaten Abschnitt der aktuelle Rassismus
gegenüber unserer Minderheit in Europa dokumentiert. Begleitend fanden und
finden Gespräche mit Regierungsvertretern der jeweiligen Länder und
Organisationen statt, um auf politischer Ebene nachhaltige Maßnahmen zur
Verbesserung der von Rassismus und Diskriminierung geprägten Situation der
Minderheit insbesondere in den Ländern Ost- und Südosteuropas zu erwirken.
Bisher wurde die Ausstellung unter anderem in Metropolen wie Warschau,
Budapest, Bratislava, Prag, Kiew und Oslo gezeigt. Bereits jetzt ist ein
allmählicher Bewusstseinswandel in der Öffentlichkeit und in der Politik
erkennbar. Es ist unser Ziel, dass sich sowohl die in den internationalen
Organisationen vertretene Staatengemeinschaft als auch die nationalen Regierungen
ihrer besonderen historischen und politischen Verantwortung gegenüber den Sinti
und Roma dauerhaft bewusst werden sowie Minderheitenrechte in ihren Verfassungen
verankern und diese umsetzen. Dies betrifft neben der Einhaltung von
Menschenrechten die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe der Sinti und
Roma in Kernbereichen wie Bildung, Arbeit, Gesundheit oder soziale Sicherheit.
- Eine weitere wichtige Aufgabe
unseres Zentrums ist es, die kulturellen Beiträge der Sinti und Roma u. a. auf
den Gebieten Literatur, bildende Kunst und Musik zu dokumentieren und
vorhandene Klischees überwinden zu helfen. In Kooperation mit Fachleuten aus
dem In- und Ausland führte das Zentrum mehrere Tagungen zur Genese, Struktur
und Funktion von „Zigeuner“-Stereotypen in der
Literatur - von den klassischen Werken über die Kinder- und Jugendliteratur bis
hin zu Lexika und Enzyklopädien - und im Film, der als modernes Massenmedium
seit der Frühzeit des Stummfilms stets eine wichtige Rolle bei der Tradierung
und Reproduktion antiziganistischer Vorurteile
gespielt hat und leider immer noch spielt, durch.
Im Bereich Bildung geht es um die Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung, um Förderprogramme und Stipendien. Weiterhin führen wir Lehrerseminare durch und erarbeiten Unterrichts begleitende Materialien, die allgemein über die Minderheit und ihre Geschichte informieren. Auf dem Schulbuchsektor und in schulpolitischen Fragen engagiert sich das Zentrum für eine größere Beachtung der Sinti und Roma und den Abbau von Vorurteilen. Weiterer Arbeitsschwerpunkt ist die Bewahrung des deutschen Romanes im Sinne der europäischen Charta für Regional- oder Minderheitensprachen. In den Sinti- und Roma-Familien ist das Romanes neben Deutsch die zweite Muttersprache und damit ein wesentlicher Teil der kulturellen Identität der Minderheit. Darüber hinaus wendet sich das Zentrum konsequent gegen konkrete Fälle von Benachteiligungen und Diskriminierungen im gesamten Bundesgebiet und im Ausland. Schließlich führen wir Gedenkfahrten für die Überlebenden und ihre Angehörigen an die historischen Stätten der Völkermordverbrechen durch. Nicht zuletzt stellt die pädagogische Betreuung der ständigen Ausstellung, insbesondere die Führungen von Schulklassen, Studenten oder anderen Gruppen eine wichtige Aufgabe dar. Darüber hinaus organisiert das Zentrum regelmäßig Tagungen zur aktuellen Situation von Minderheiten und zu Menschenrechtsfragen und kooperiert dabei eng mit internationalen Minderheitenorganisationen. Das zweimal im Jahr erscheinende Veranstaltungsheft mit Vorträgen, Konzerten und Wechselausstellungen zu kulturellen sowie zeitgeschichtlichen Themen kann kostenlos angefordert werden. Aktuelle Programmhinweise finden sich auch auf der Homepage des Zentrums (www.sintiundroma.de).