Polens Wirtschaft wächst
Von Helga Herberg
Von innenpolitischen Krisen und außenpolitischen Problemen
unbeeindruckt hat sich Polens Wirtschaft weiter dynamisch entwickelt. Der
Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts war mit rund 6% fast doppelt so hoch wie im
Durchschnitt aller Länder der EU. Die Investitionstätigkeit ist bedeutend
angestiegen, der Export expandierte stark. Hinter diesen volkswirtschaftlichen
Kennziffern verbergen sich jedoch große soziale Probleme wie die hohe
Arbeitslosigkeit und Polen bleibt, im Vergleich mit dem sozialökonomischen Niveau
der EU, immer noch arm. Eine wesentliche Ursache dafür ist, dass der Aufschwung
nur wenige Regionen des Landes erfasst, während viele zurückbleiben.
Trotz ungünstiger
innenpolitischer Rahmenbedingungen hielt der Wirtschaftsaufschwung in Polen weiter an.
Dynamische konjunkturelle
Entwicklung
Die wirtschaftliche Dynamik hat
sich 2006 weiter beschleunigt. Das Bruttoinlandsprodukt stieg real im Vergleich
zum Vorjahr um 5,8% an. Träger des Wachstums war vor allem die
Industrieproduktion, die sich gegenüber 2005 um 11,3% erhöhte. Daran war
insbesondere der Maschinenbau stark beteiligt. Prognosen der
Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen mit einer Fortsetzung des jährlichen
Wachstumstempos des Bruttoinlandsprodukts von mindestens 5% in diesem und im
nächsten Jahr. Die Industrieproduktion wird sich voraussichtlich im gleichen
Zeitraum um 7-8% jährlich erhöhen.
Zum Wachstum des Bruttoinlandsproduktes hat 2006 die ansteigende Binnennachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern entscheidend beigetragen. Der private Konsum nahm um fast 5% zu. Ausschlaggebende Gründe dafür waren sowohl der Anstieg der Realeinkommen als auch ein Zuwachs der Beschäftigung. Die Investitionstätigkeit entwickelte sich schneller als im Vorjahr. Die Anlageinvestitionen nahmen im Vergleich zum Vorjahr um etwa 12% zu. Sie profitierten von der verbesserten Gewinnsituation der Unternehmen und dem erneuten Anstieg ausländischer Direktinvestitionen. Auch die Bauinvestitionen sind stark angestiegen, daran hatten Mittel aus den Fonds der EU entscheidenden Anteil.
Die Arbeitslosenquote ist im
Vergleich zum Vorjahr merklich gesunken (von 17,8% auf 13,9%.). Bis 2008 wird
mit einer Stabilisierung auf einem noch immer hohen Niveau von 13% gerechnet.
Die Verringerung der Arbeitslosigkeit beruht in erster Linie auf dem Anstieg
der Beschäftigung. Wie auch in anderen neuen EU-Ländern in Mittel- und
Osteuropa wurde in den letzten Jahren das Wirtschaftswachstum nicht mehr allein
durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität ermöglicht, Rückstände auf diesem
Gebiet konnten weitgehend überwunden werden. Nun wird allmählich auch die
Einstellung neuer Arbeitskräfte erforderlich. Zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit
hat auch die Abwanderung in die EU, obwohl die Freizügigkeit seit dem Beitritt
zunächst auf wenige Länder beschränkt blieb, beigetragen.
Die Inflationsrate war mit 1%
trotz Wirtschaftswachstum und Beschäftigungszuwachs sehr niedrig. Sie wird
voraussichtlich auch im laufenden und im kommenden Jahr unterhalb des
mittelfristigen Inflationsziels von 2,5% bleiben. Das Defizit des
Staatshaushaltes überschritt dagegen auch 2006 wieder mit 4% erheblich die von
der EU geforderte 3%-Grenze. Die Staatsverschuldung stagnierte bei 47,8% des
BIP. Da Haushaltsreformen aufgeschoben wurden, kann mit einer Reduzierung des
Budgetdefizits entsprechend der Konvergenzkriterien der EU frühestens im Jahre
2009 gerechnet werden. Die amtierenden Regierung hat
zudem Befürchtungen geäußert, dass eine zügige Euroübernahme die polnische
Wirtschaft einem zu starken Konkurrenzdruck aussetzen würde. Anstelle des
ursprünglich für 2007 vorgesehenen Beitritts zum Wechselkursmechanismus II als
zweijährige Vorstufe zum Euroraum soll erst im Jahr 2010 ein Referendum über
die Euroeinführung stattfinden. Damit würde Polen erst nach 2010 der Eurozone
beitreten. Ähnliche Haushaltsprobleme bzw. die Furcht vor negativen
volkswirtschaftlichen Folgen haben auch Ungarn und Tschechien zu einem Aufschub
des Eintritts in den Euroraum bewogen.
Polens Außenhandel verzeichnete
2006 im Vergleich zum Vorjahr starke Zuwächse (in Euro im Export und im Import
jeweils rund 23%). Der Exportanstieg ist wesentlich der Konjunkturbelebung in
den EU-Ländern zu verdanken, aber auch dem erfolgreichen Strukturwandel in der
Exportindustrie. Infolge der wachsenden Binnennachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern
sind jedoch auch die Importe stärker als im Vorjahr gewachsen, sodass die
Handelsbilanz negativ blieb. Der Deckungsgrad des Imports durch den Export hat
sich in den vergangenen 5 Jahren deutlich verbessert (von 74% auf 88%), was
auch auf eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit polnischer Exporterzeugnisse,
vor allem im Bereich industrieller Güter, zurückzuführen ist. Polens Exporte
sind gegenwärtig zu fast 78% in die Länder der EU gerichtet, und 63% aller
Importe kommen aus der EU. Auf Deutschland, Polens größten Handelspartner,
entfällt etwa ein Viertel des gesamten Außenhandelsumsatzes.
Die Leistungsbilanz bleibt in Polen
weiterhin defizitär. Mit 6,3 Mrd. Euro betrug das Defizit 2006 2,3% des
Bruttoinlandsprodukts. Die gesamte Bruttoauslandsverschuldung stieg per
Jahresende des Vorjahres auf 126,7 Mrd. Euro. Die Währungsreserven der
Nationalbank erreichten eine Höhe von 35,2 Mrd. Euro. Die Zuflüsse an
ausländischen Direktinvestitionen sind in den Jahren seit dem EU-Beitritt stark
angestiegen (2006 um 11 Mrd. Euro).
Ungelöste soziale und regionale Probleme
Trotz des anhaltend hohen
Wirtschaftswachstums zählt Polen noch immer zu den ärmsten Ländern der EU. Auch
im Vergleich zu den anderen neuen mittel-osteuropäischen Mitgliedsländern
bleibt sein sozialökonomisches Niveau, gemessen an der Kennziffer des
Bruttoinlandsprodukts pro Kopf zu Kaufkraftparitäten mit 51% des Durchschnittsniveaus
der EU niedrig (zum Vergleich: Tschechien 74%, Slowenien 80%, Ungarn 62%;
Slowakei: 60%).
Seit dem Beginn des
Transformationsprozesses hat sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf etwa
150% des Ausgangsniveaus erhöht, die Industrieproduktion auf 230%. Das
Ausgangsniveau von 1989 wurde von Polen bereits 1996 und damit eher als in den
anderen Ländern wieder erreicht. Dennoch verläuft der Prozess der angestrebten
Annäherung an das Wohlstandsniveau westlicher Länder langsamer als gedacht. Nach
Expertenschätzungen wird Polen erst etwa 2030 das Durchschnittsniveau der EU
erreichen. Ausschlaggebend sind strukturelle und regionale Probleme, die
stärker als in anderen Ländern wie Tschechien und Ungarn ausgeprägt sind.
Die Wirtschaftsstruktur Polens
hat sich im Laufe der letzten 15 Jahre positiv verändert und dem
Muster moderner Volkswirtschaften weitgehend angenähert. Gut zwei Drittel der
gesamten Wertschöpfung entfallen auf Dienstleistungen, 30% auf das
produzierende Gewerbe (Industrie und Bauwirtschaft) und weniger als 5% auf die
Land- und Forstwirtschaft. Von der gesamten Industrieproduktion entfallen 85%
auf das verarbeitende Gewerbe. Der früher dominierende Bergbau ist nur noch mit
5% beteiligt. Innerhalb des verarbeitenden Gewerbes hat sich seit der Mitte der
90er Jahre die Struktur zugunsten technologieintensiver Branchen (Maschinen-
und Fahrzeugbau, Elektrotechnik) auf Kosten arbeitsintensiver Branchen (Textil-
und Holzverarbeitende Industrie) progressiv verändert. Doch die Überbeschäftigung in der Landwirtschaft
bleibt ein schwer zu lösendes soziales Problem. Von allen Beschäftigten
entfällt in Polen nach offiziellen statistischen Angaben noch ein Fünftel auf
die Land- und Forstwirtschaft, in der EU sind es im Durchschnitt nur 4%.
Trotz der günstigen Entwicklung
der Beschäftigung in den letzten drei Jahren bleibt die Arbeitslosigkeit ein
schwerwiegendes soziales Problem. Die Arbeitslosenquote war 2006 mit 14 % die
höchste aller EU-Länder (Durchschnitt: 8%) und sie lag auch deutlich höher als
in den anderen neuen mittel-osteuropäischen EU-Ländern (10%). Nur noch in der
Slowakei ist die Arbeitslosigkeit fast ebenso hoch, sie liegt in den anderen
ehemals sozialistischen Ländern im einstelligen Bereich (um 7%).
Langzeitarbeitslos sind in Polen gut zwei Drittel der Erwerbslosen, mit
geringen Chancen auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und bei einem
sehr niedrigem Niveau der sozialen Absicherung.
Die Arbeitslosigkeit weist in
Polen stark ausgeprägte regionale Unterschiede auf, die eine Lösung des
Problems erschweren. Sie liegt in 7 der 16 polnischen EU-Regionen der Ebene 2
bei 20 bis 25 %. Aber auch in den Regionen mit der günstigsten wirtschaftlichen
Entwicklung und Arbeitsmarktsituation liegt sie noch im zweistelligen Bereich
und damit über dem Durchschnitt der EU. Zugleich sind in bestimmten Regionen
und Berufen bereits erste Anzeichen von Arbeitskräftemangel zu beobachten als
Folge der Abwanderung in alte EU-Länder.
Jugendliche (unter 24 Jahre) sind
von der Arbeitslosigkeit in besonderem Maße betroffen, etwa jeder Dritte in
dieser Altersgruppe ist arbeitslos. Die Quote schwankt in den einzelnen
Regionen von 30-45%. Sie liegt in 6 der insgesamt 16 polnischen Regionen bei
40-45%, also ist dort fast jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit. Der hohe Grad
der Jugendarbeitslosigkeit ist im Vergleich aller 20 EU-Länder eine
Besonderheit Polens. Von den 10 EU-Regionen von insgesamt 254 mit der höchsten
Jugendarbeitslosigkeit (ab einer Quote von 40%) entfallen allein 6 auf Polen.
Große regionale Entwicklungsunterschiede
spiegeln sich nicht nur in den Arbeitslosenquoten, sondern auch in der Höhe des
regionalen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf und den Einkommensunterschieden
wieder. Von allen polnischen Regionen hat sich besonders die Hauptstadtregion Masowien günstig entwickelt. Nur dort wird schon das Niveau
von 75% des EU-Durchschnitts erreicht, das die Grenze der Zugehörigkeit
markiert und eine Förderung überflüssig macht. Von den
insgesamt 16 bleiben 6 Regionen arm, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erreicht
dort nur etwa ein Drittel des durchschnittlichen EU-Niveaus. Sie befinden sich
überwiegend in ländlichen Regionen im östlichen Teil des Landes, sind von der
wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt und ohne Zukunftsperspektiven.
Ausländische Direktinvestitionen
tragen zum Abbau der regionalen Disparitäten nicht bei, sondern verstärken
diese noch. Im innerpolnischen Standortwettbewerb verlieren strukturschwache
Regionen weiter an Boden. Rund 30% der ausländischen Investitionen flossen in
den letzten Jahren nach Masowien mit dem Ballungsraum
um Warschau, und nur 1,4% nach Niederschlesien mit dem niedrigsten
Einkommensniveau und der höchsten Arbeitslosenquote.
In den Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute wird davon ausgegangen, dass sich in den nächsten Jahren die günstige konjunkturelle Entwicklung der polnischen Wirtschaft fortsetzen wird. Auch langfristig wird mit positiven Effekten des EU-Beitritts gerechnet. Dies führt jedoch nicht automatisch zu einer Verringerung des sozialen Gefälles und der regionalen Disparitäten. Dies bleibt eine der wichtigsten Aufgaben der polnischen Politik, die ohne stärkere Unterstützung der EU als bisher nicht zu lösen ist.