Das bloße Leben

oder: Das Schamgefühl ist eine der emotionalen

Grundlagen der Kunst

 

Von Christiane Thoms

 

Artur Żmijewski wurde 1966 in Warschau geboren und bedient sich als polnischer Künstler der Medien und Stilmittel der Fotografie, Video- und Aktionskunst. In seinen Arbeiten werden immer wieder die Banalitäten und extremen Randerscheinungen des Alltags thematisiert. Dabei stellt er das „Normale“ künstlerisch in Frage. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen oft Leiden, Zerbrechlichkeit, Nacktheit und manchmal Leichtsinn. Die verborgene Seite des menschlichen Wesens fasziniert, so dass ihm der amputierte, verstümmelte, unter motorischen Störungen leidende Körper sowie der gesunde Körper im Aufeinandertreffen mit dem behinderten als Sammelbecken der Widersprüche und der Gewalt dient, die die Menschen erfahren, die den Ereignissen ihres persönlichen Alltags ausgeliefert sind.

 

Żmijewski inszeniert, manipuliert, arrangiert und er skandalisiert diejenigen, die nicht begreifen, dass seine Arbeit und seine Inszenierungen nur in ungewöhnlicher, aber legitimer Weise auf die etablierte ökonomische Ordnung antwortet, deren Erscheinungsformen den Geist beherrschen und zutiefst erschöpfen.

Żmijewski, der ursprünglich Bildhauerei studierte und von 1990 bis 1995 an der Warschauer Kunstakademie neben Kommilitonen wie Katarzyna Kozyra und Pawel Althamer Schüler von Professor Grzegorz Kowalski war, taucht ein in eine Sphäre, die sich zwischen gesellschaftlichen Regel- und Ausnahmezuständen eröffnet.

Seine ersten Ausstellungen machte er Mitte der 90er-Jahre. Er war in Polen wie auch auf internationaler Ebene mit Gruppen- und Einzelausstellungen in zahlreichen Galerien, zeitgenössischen Kunstzentren und Museen zu Gast. 2005 widmete ihm die Kunsthalle in Basel eine bedeutende Ausstellung, in der auch die Installation „Repetition“ zu sehen war, die ebenfalls im polnischen Pavillon auf der Biennale in Venedig gezeigt wurde: Unter der Aufsicht einer erfahrenen Psychologin haben Freiwillige in einem geplanten Zeitraum von 14 Tagen, die ihnen per Los zugeteilten gesellschaftlich-sozialen Rollen eines Häftlings bzw. Gefängniswärters ausgeübt. Zmijewski dokumentiert hiermit das Experiment, dessen Gefängnis-Set Up in einem post-industriellen Areal in Warschaus historischem Stadtteil Praga installiert wurde. Das Gefängnis ist mit Einwegsichtfenstern ausgestattet, durch die die fünf Kameraleute - ergänzt durch Aufnahmen von Nachtsicht-Überwachungskameras - das Material für die Arbeit „Repetition“ sammelten. Den BesucherInnen wird dabei nur die Beobachterperspektive von außen möglich sein: Das Umrunden des Objektes und der Blick von Außen nach Innen.

Man hat das Gefühl, dass Żmijewski die Video-Kunst auf seine eigene Weise und in seinem eigenen Rhythmus neu erfindet. Er gibt einem das Gefühl, dass die Spur, die er verfolgt, bei Null anfängt, oder zumindest an einem Ausgangspunkt, der sein eigener ist und nicht kulturellen Tendenzen und Bezugspunkten unterworfen ist, die gerade in Mode sind. Allerdings sollte man berücksichtigen, dass sich eine bestimmte Künstlerszene der 80er- und vor allem 90er-Jahre mit der Frage nach der "Politik des Körpers" beschäftigte und Skandale provozierte.

Eine bekannte Arbeit von Żmijewski ist sein zweiteiliges Projekt „Gesangsstunde“ (2003) mit gehörlosen und schwerhörigen Jugendlichen. In Warschau und Leipzig hat er mit diesen Jugendlichen eine Kantate von Johann Sebastian Bach und ein Kyrie von Jan Maklakiewicz eingeübt und öffentlich aufgeführt. Für Żmijewski repräsentieren die Gehörlosen, die Bachs Kantaten in eine andere und fremde Dimension überführen, eine Andersartigkeit. Diese entspricht der von dem amerikanischen Soziologen Richard Sennett beschriebene Produktivkraft individueller „Othernes“, die es anzuerkennen statt auszugrenzen gilt. Das Projekt „Gesangsstunde“, das neben dem Film „Fangen“ (1999) und einer noch im Werden befindlichen Arbeit im Rahmen der diesjährigen documenta 12 gezeigt wird, ist charakteristisch für Żmijewskis wiederholte Fokussierung verschiedener Ausprägungen dieses Andersseins. Und es passt, wie Żmijewskis gesamtes Werk, paradigmatisch zu dem thematischen Stichwort „Das bloße Leben“ - einem der drei „Leitmotive“ der documenta 12.

Für die Berliner Ausstellung, die vom 19.5. bis 24.6.2007 im Neuen Berliner Kunstverein zu sehen ist, erfasste der Künstler Żmijewski in zehn Momentaufnahmen das gesellschaftspolitische Handlungsfeld der Erwerbsarbeit. Er begleitet Ursula, Dieter und Patricia u.a. in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, auf der Baustelle oder im U-Bahnhof Friedrichstraße beim Verkauf von HotDogs und richtet seine Kamera dabei auf die Befindlichkeiten der seelischen Wunden. Es sind die Erniedrigungen von Niedriglohnarbeitern aus Mexiko, Italien, Polen oder Berlin, die den Betrachtenden im Alltag oft genug zum verschämten Wegschauen drängen.

Über die Mechanismen der menschlichen Scham weiß Żmijewski in seinen Arbeiten mit dokumentarischen Zügen zu berichten und lotet dabei die Regeln des politisch Korrekten für das ikonografisch geschulte Auge auf besonders einprägsame Weise aus. Viele Filme von Żmijewski bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, denn die Haltungen der Betrachtenden werden zu den Themen Tabu, Trauma und Antidiskriminierung auf den Prüfstand gestellt. Er rückt diese kaum beachteten Randfiguren unkommentiert in den Fokus der Darstellung und verweist auf ihr „Anderssein“, ohne in den direkten Dialog mit ihnen zu treten. Immer wieder legt Żmijewski seine Finger auf die offenen Wunden und mischt sich ein, um damit seinen Arbeiten Raum für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung zu schaffen.